Gastkommentar: Die Wirtschaft des größten südamerikanischen Staats hat sich mehr als erholt.
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Vor etwas mehr als eineinhalb Jahren übernahm ich das Amt des brasilianischen Staatspräsidenten in der schwersten Wirtschaftskrise des Landes, die tiefgreifende soziale Auswirkungen hatte. Angesichts dieser Herausforderung schlug ich eine Reformagenda vor, ohne auf populistische Mittel zurückgreifen zu müssen. Diese Agenda besteht aus den weitreichendsten strukturellen Reformen der vergangenen 30 Jahre, gestützt auf die Pfeiler der steuerlichen Ausgewogenheit, der sozialen Verantwortung und des Wirtschaftswachstums.
Das Ergebnis ist bereits sichtbar. Die Rezession ist vorbei, und die brasilianische Wirtschaft wächst im zweiten Quartal in Folge (siehe Grafik). Analysten prognostizieren das BIP-Wachstum auf 1 Prozent für 2017, die Inflation ist massiv gesunken, die Kaufkraft bei den realen Einkommen um mehr als 6 Prozent gestiegen. Die Leitzinsen gehen kontinuierlich zurück und sind heute mit 7,5 Prozent auf dem niedrigsten Stand seit vier Jahren. Der Banken-Spread ist deutlich zurückgegangen - allein der Zinsenrückgang hat dem Staat 80 Milliarden Real (21 Milliarden Euro) geliefert.
Brasiliens Handelsbilanz bricht unaufhörlich Rekorde: In den ersten drei Quartalen wurde ein Wachstum von 51,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verzeichnet. Die industrielle Produktion stieg im selben Zeitraum um 1,6 Prozent (im Mai 2016 war sie um 9,8 Prozent zurückgegangen). Auch die Getreideernte wird 2017 die historische Höchstmarke von 242 Millionen Tonnen erreichen, das sind 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Auf den Energieauktionen, die mit dem neuen Regulierungsmodell vorgenommen wurden, wurden - inklusive der Berechnungen vor der Ölgewinnung aus dem Meer - umgerechnet 5,7 Milliarden Euro erwirtschaftet. Allein in diesem Sektor sind in den nächsten Jahren Investitionen von 116 Milliarden Euro und die Schaffung von bis zu 500.000 neuen Jobs zu erwarten.
Vertrauen in die Wirtschaft zurückgewonnen
Diese Erfolge wurzeln in der Wiedererlangung des Vertrauens in die brasilianische Wirtschaft. Dank Rationalisierungsmaßnahmen und wirtschaftlicher Voraussicht sowie einer Entbürokratisierung der Bereiche Landwirtschaft, Dienstleistungen, Einzel- und Außenhandel hat sich das Wirtschaftsklima verbessert. Das Gesetz, das den Bundesstaaten die Verantwortung übertrug, ermöglichte die Professionalisierung staatlicher Firmen. Früher nicht gut angeschrieben, haben diese Staatsbetriebe ihr Ansehen verbessert. 2015 noch mit 8,4 Milliarden Euro in den roten Zahlen, haben sie 2016 schon wieder Gewinne von 1,2 Milliarden Euro gemacht, im ersten Halbjahr 2017 sogar 4,5 Milliarden Euro.
Mit dem Ziel, die Produktivität zu fördern, wurde die Arbeitsreform angenommen. Ohne Rechte zurückzunehmen, wurde die Gesetzgebung modernisiert und hat bisher ausgeschlossene Arbeiter in die Norm aufgenommen.
Der Erfolg dieser Agenda spiegelt sich bereits in der Erholung der Beschäftigung mit dem Anstieg der Beschäftigungszahlen wider. Laut dem Beschäftigten- und Arbeitslosenregister ergibt sich ein positiver Jahreswert von 163.000 Arbeitsplätzen verglichen mit dem Verlust von 448.000 Arbeitsplätzen zwischen Jänner und Mai 2016. Das Brasilianische Institut für Geografie und Statistik errechnete allein für das dritte Quartal 2017, dass gut eine Million Arbeitsplätze geschaffen wurden und 524.000 Personen Arbeit gefunden haben. Insgesamt ist die reale Rendite der Arbeiter im dritten Quartal 2017 um 3,9 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres gestiegen.
Die Wiederherstellung der steuerlichen Verantwortung und das Wirtschaftswachstum ermöglichen höhere Sozialausgaben. Programme, die Gefahr liefen, in den Steuerkollaps zu führen, wurden unter Rücksichtnahme auf verfassungsrechtlich bestimmte Obergrenzen und auf die Effizienz öffentlicher Ausgaben revitalisiert. Die Familienbeihilfe ist um 12,5 Prozent gestiegen (nachdem es zwei Jahre lang keine Anpassung gab), und die Warteliste wurde abgeschafft. Die Regierung ist noch weiter gegangen und hat das Programm "Progredir" ("Vorankommen") geschaffen, das den betroffenen Familien hilft, Arbeit zu finden, Kredite zu bekommen und damit unabhängig zu werden. Ich habe das Wagnis unternommen, die inaktiven Konten des Garantiefonds für erbrachte Arbeitszeit zu aktivieren, und den Forderungen des Sozial- und Beamtenrentenfond vorgegriffen, wovon Millionen Brasilianer profitierten und der Wirtschaft 15,6 Milliarden Euro zukamen.
Mehr Geld für Gesundheit und Bildung
Das Gesundheits- und Bildungsbudget ist gewachsen. Die Rationalisierung des Gesundheitsmanagements hat noch mehr Ressourcen für essenzielle Dienstleistungen gebracht: Gut eine Milliarde Euro wurde umgeleitet für den Kauf von Ausrüstung, die Neueröffnung von Gesundheitseinrichtungen und die Einstellung von Personal. Das Programm "Volksapotheke" gab 80 Prozent seines Budgets für die Verwaltung aus - das neue Verteilungssystem hat mit rund 26 Milliarden Euro pro Jahr die Möglichkeiten zum Erwerb von Grundmedikamenten erweitert.
Im Bereich Bildung hat die Reform auf mittlerer Bildungsebene die Lebensläufe der Schüler aktualisiert, sodass deren persönlichen Fähigkeiten an die aktuellen Anforderungen des Arbeitsmarktes angepasst werden konnten. Der Studentenförderungsfonds FIES wurde wiederbelebt und ist heute mit 75.000 neuen Studienplätzen finanziell nachhaltig. Mehr als 183 Millionen Euro sind in den Fonds eingezahlt worden, verspätete Auszahlungen wurden vermieden. Und ein geostationärer Satellit stellt einen entscheidenden Schritt in Richtung universellen Zugang zum Breitbandinternet in Brasilien dar.
Die Ergebnisse zeigen, dass die von der Regierung vorgeschlagene und umgesetzte Strategie richtig ist. Wir haben die Krise hinter uns gelassen und sind wieder auf Schiene in Richtung Fortschritt. In der Überzeugung, dass es keine Zeit zu verlieren gibt, werde ich weiter an der Reformagenda arbeiten. Der nächste Schritt wird sein, den Reformen Kontinuität zu verleihen, um die Bonität, das Überdauern des Systems und die Abschaffung von Privilegien zu garantieren. Die Vereinfachung der Steuergesetze, eine weitere Priorität, wird die Wettbewerbsfähigkeit unserer Produkte steigern. Mit der unabdingbaren Unterstützung des Kongresses, der Arbeiter und Betriebe bringen wir Brasilien wieder auf Schiene.
Zum Autor
Michel Temer
ist Präsident der Föderativen Republik Brasilien.