Brasilien ist zerrissen zwischen enormem Reichtum, aufstrebendem Wirtschaftswachstum und extremer Armut. Das einstige Schwellenland verfügt über eine der stärksten Kapitalkonzentrationen der Welt und spielt eine Hauptrolle im südamerikanischen Wirtschaftsbündnis Mercosur. Doch 60 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, 32 Millionen Brasilianer hungern. In dieser aussichtslosen Situation haben sich die Ärmsten zusammengefunden, sie wollen die ungerechte Verteilung von Besitz und Chancen nicht länger hinnehmen. Seit 1984 werden brachliegende Latifundien von Landlosen besetzt - viele riskieren dabei ihr Leben.
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Als Erbe der portugiesischen Kolonialzeit kontrolliert ein Prozent der Landeigentümer mehr als 45 Prozent des fruchtbaren Bodens. Während 89 Prozent der Landbevölkerung nur 20 Prozent des Ackerlandes besitzen. In den Jahren der Militärdiktatur wurden 30 Millionen Bauern von ihrem Land vertrieben.
Die 500-Jahre-Entdeckungsfeier, die im April stattfand, erinnerte an koloniale Zeiten: Indios waren ausgeschlossen. Auch gab es für den Großteil der Bevölkerung keinen Grund am Fest teilzunehmen. Jorge Neri, ein Vertreter der brasilianischen Landlosenbewegung Movimento Sem Terra (MST) die vor über zehn Jahren entstanden ist, berichtet: "Die weiße Elite feierte in ihren großen Häusern, und die Armen darbten in ihren Hütten". Am 22. April ging die Militärpolizei sogar mit Gewalt gegen die Teilnehmer der von der Opposition organisierten 500-Jahre-Protestkundgebungen vor.
Ein ungerechtes Land
"Brasilien ist kein unterentwickeltes Land, es ist ein ungerechtes Land", sagte der 1995 gewählte Staatspräsident, Fernando Henrique Cardoso, noch vor seinem Amtsantritt. An dieser Situation hat sich allerdings bis heute nichts geändert. Noch immer ist die von vielen geforderte Agrarreform nicht in Angriff genommen worden. Seit Anfang Mai haben die Landlosen in ganz Brasilien Straßen gesperrt, Ländereien und Gebäude der staatlichen Agrarbehörde besetzt, um auf ihre lebenswichtigen Anliegen aufmerksam zu machen. Bei einem Polizeieinsatz in Curitiba, Paraná, wurden ein Demonstrant getötet und 140 Personen schwer verletzt. Ähnliche Szenen gab es 1996 beim Massaker von El Dorado nahe Carajás, bei dem 19 landlose Demonstranten starben. Jorge Neri, ist ein Überlebender der durch Zufall gerettet wurde: "Dieses Massaker ist ein Symbol der Missachtung der Menschenrechte in Brasilien". Demnächst soll der Prozess gegen die Militärpolizisten wieder aufgenommen werden, die im August 1999 in Belém auf Betreiben des Gouverneurs von Pará freigesprochen wurden.
Kampf um ein Sozialsystem
"Der Kampf um Land ist nicht neu. Aber es reicht nicht aus, nur um Boden zu kämpfen, wir sind eine soziale Bewegung", erklärt Neri. Die Agrarreform ist also nur ein Teil der Forderungen der Bewegung MST. Sie ist mit 5 Millionen Anhängern eine der weltweit größten Massenorganisationen, die sich international für eine Entschuldung und gegen unsoziale Privatisierungen einsetzen. So wollen die Kämpfer für eine gerechte Umverteilung auch den Zugang zur Bildung für alle, eine faire Gesundheitspolitik, gerechte Löhne für Arbeiter, geförderte Kredite für Kleinbauern und eine Infrastruktur für die ländlichen Regionen durchsetzen. Die Landwirte können noch nicht eigenständig arbeiten, denn es fehlt am Notwendigsten wie Strom, Straßen oder Brücken. Der MST hat es mittlerweile geschafft, Land für 150.000 Familien mit einer Fläche von 7,5 Mill. Hektar zu erstreiten.
Brasilien ist ein Großexporteur von landwirtschaftlichen Produkten wie Soja, Zucker, Orangen, Kaffee, Kakao und Rindfleisch, die monokulturell erzeugt werden. Aber nahezu 32 Millionen Menschen leiden Hunger, denn nur 11 Prozent der Produktion bleiben im Land. Dieses Ungleichgewicht muss sich ändern, fordern die MST-Vertreter: "Wir wollen eine bessere Zukunft für alle Menschen unseres Landes".
Noch bis zum 24. Juni dauert die Kultur-Veranstaltungsreihe "Brasil 2000" im WUK, Währinger Str. 59, 1090 Wien. Informationen unter 40 121-70