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"Brauchen neue Sozialpartnerschaft"

Von Thomas Seifert

Politik
© Stanislav Jenis

Ökonom Stephan Schulmeister fordert eine Wirtschaftspolitik im Geiste des "New Deal".


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"Wiener Zeitung": Am Montag feiern die Sozialdemokraten den Tag der Arbeit: Aber es gibt immer weniger Arbeiter und der Sozialdemokratie ist in Europa alles andere als zum Feiern zumute.

Stephan Schulmeister: Die Ausgangsbasis der Sozialdemokratie ist jämmerlich schwer, das ist keine Frage. Aber: Die alten Frontstellungen haben ausgedient. Die Konfliktlinie verläuft nicht mehr zwischen den Industriellen, den Unternehmern und dem Proletariat und den Angestellten, sondern zwischen den Akteuren der Realwirtschaft - das sind Unternehmer und Mitarbeiter gleichermaßen - und den Alchemisten der Finanzwirtschaft. Oder: Klein- und Mittelbetriebe haben völlig andere Interessen als die internationalen, transnationalen Konzerne. Ich glaube daher an Bündnisse zwischen Gewerkschaften und der Masse der Klein- und Mittelbetriebe, die gemeinsam mit ihren durch die Gewerkschaften vertretenen Mitarbeitern das Rückgrat der Realwirtschaft bilden. Beide Seiten - Unternehmer und Gewerkschaften - haben ein Interesse daran, verständlich zu machen, wie viel der Boom der Finanzakrobaten die Gesellschaft in den letzten 30, 40 Jahren gekostet hat. Letztlich nehmen die Finanzkapitalisten den Realkapitalisten und Unternehmern - und somit natürlich auch ihren Arbeitern und Angestellten - Profit weg. Politik ist - um Carl von Clausewitz zu variieren - die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Der Politik wohnt der Konflikt, das Kriegerische inne. Und im Krieg muss ich wissen, wer meine Gegner sind, aber auch, wo ich potenzielle Verbündete finde. Was wir also brauchen, ist eine neue Sozialpartnerschaft.

Sie sind ja auch ein Bewunderer von Franklin D. Roosevelts "New Deal". Roosevelt hatte nicht gerade die beste Meinung von den Wall-Street-Spekulanten.

Roosevelt hat unter dem Eindruck des Schocks von 1929 verstanden, dass er die Wall Street an die Kandare nehmen muss. Dann hat er sich um die Jugendarbeitslosigkeit gekümmert und begonnen, ein soziales Sicherungsnetz zu spinnen. Einer der schwersten Fehler von US-Präsident Barack Obama war es, nach der Krise von 2008 die Banken zu retten und nicht die Schuldner. Hätte er nämlich den Kopf der Schuldner über Wasser gezogen, hätte er auch die Banken absichern können. Dadurch wäre die Bankenrettung billiger gewesen, auch die Banken wären nicht untergegangen, die politische Unzufriedenheit wäre heute viel geringer. Zudem hätte man die Banken zwingen müssen, die Laufzeiten der notleidenden Immobilienkredite zu strecken und die Zinsen zu senken. Auf einen Teil der Forderungen hätten die Banken zudem wohl verzichten müssen.

Was kann der Staat dazu beitragen, um die Wirtschaft wieder flottzukriegen? Soll man der Nachfrageschwäche mit öffentlichen Investitionen entgegenwirken?

Das kann man natürlich machen. Für noch wichtiger halte ich es aber, die systemischen Fehler anzugehen. Die da wären: In den vergangenen 40 Jahren hat sich die kapitalistische Kernenergie auf Finanzanlagen und Spekulationen verlagert. Wenn der Zinssatz Jahr für Jahr über der Wachstumsrate liegt und gleichzeitig etwa Rohstoffpreise sehr volatil sind, dann führt das fast zwangsweise dazu, dass Investitionen in die Realwirtschaft gegenüber Investments in Finanz-Produkte und Börsenspekulation im Nachteil sind. Dabei sind Investitionen in die Realwirtschaft ja ohnehin schon im Liquiditätsnachteil: Während nämlich eine etwa für eine Fabrik gekaufte Maschine nicht so einfach wieder zu verkaufen ist, sind Aktien und Wertpapiere heute fast so liquide wie Bargeld.

Wie kann man die Realwirtschaft gegenüber der Finanzwirtschaft stärken?

Die Rahmenbedingungen müssen so sein, dass die Chancen auf Vermögensvermehrung durch Finanzspekulation sehr stark reduziert - oder am besten gar unmöglich - sind. Das ist ja auch meine Kritik an der Nullzinspolitik der Notenbanken. Unter realkapitalistischen Rahmenbedingungen der sechziger Jahre hätte diese Maßnahme sehr wohl die Investitionsnachfrage gefördert, aber unter den jetzigen Bedingungen haben die Investoren einfach Aktien oder sonst irgendwie auf den Finanzmärkten investiert und der Aktienindex Dow Jones ist daraufhin in schwindelerregende Höhen geklettert.

Was schlagen Sie konkret vor?

Ich verrate Ihnen meine Lieblingsmaßnahme: Wir bremsen das Trading einfach wieder ein wenig ab und gehen vom Fließhandel zum elektronischen Auktionshandel - wo alle drei Stunden ein Preis gebildet wird - zurück. Das würde die Finanzwelt total verändern und den Finanzalchemisten ihr Rohmaterial entziehen, gleichzeitig würde die Börse weiter ihre Aufgabe wunderbar erfüllen. Der Hochfrequenzhandel bringt nämlich niemandem etwas außer den Hochfrequenztradern mit ihren hochgezüchteten, superschnellen Großcomputern.

Kommen wir von Ihrer Lieblingsmaßnahme zu Ihrem Lieblingsfeind. Dem Neoliberalismus . . .

. . . der erfolgreichsten Bewegung der Gegenaufklärung. Der Neoliberalismus ist der Wiedereintritt in die selbst verschuldete Unmündigkeit. Denn die Neoliberalen unterwerfen sich einem höheren Wesen, das sie abgöttisch anbeten, dem Markt. Es ist ja fast schon gespenstisch, wie die Neoliberalen dem Markt einen liebevollen Subjektcharakter zuordnen: "Die Märkte sagen", "die Märkte machen", "die Märkte bestrafen Griechenland" und anderer Unfug, so als sei der Markt so jemand wie sie und ich.

Hat also der große österreichische Wirtschaftsliberale Friedrich August von Hayek den "Weg in die Knechtschaft" vorbereitet, einen Weg in die Knechtschaft des Marktes?

Genau dafür hat Hayek die philosophische Basis gelegt. Freiheit, gibt es nach dieser Leseart nur durch Unterwerfung durch den Markt. Hayeks Jünger, die Chicago-Boys, die Neoliberalen, haben Thinktanks gegründet und ihre Netzwerke gespannt und versucht, die Hirne der Eliten zu erobern und deren Denkwelt zu besetzen, während die Anhänger von Hayeks Gegenspieler John Maynard Kaynes nie wirkliche Keynesianer waren. So hat die Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg zwar viele von Keynes Rezepten aufgegriffen, seine Forderungen nach der Zähmung des Finanzmarktes verhallten aber ungehört. Das Versagen der Sozialdemokratie in den vergangenen 30 Jahren hatte aber katastrophale Folgen. Denn wenn konservativ-christliche Parteien in den Sog des neoliberalen Denkens geraten, dann verzeiht das die Wählerschaft zum Teil, wenn aber die Sozialdemokratie vor den Marktfundamentalisten in die Knie geht, dann ist das der Untergang. Das Resultat ist dann in den Niederlanden oder Frankreich zu besichtigen, wo Sozialdemokraten unter Artenschutz stehen.

Viele ehemalige Wählerinnen und Wähler der Sozialdemokratie haben Zukunftssorgen, fühlen sich im Stich gelassen und haben sich Rechtsdemagogen zugewandt.

Die Rechtsdemagogen haben eben die passenden Sündenböcke parat. Aber auch die Neoliberalen lenken mit Sündenböcken vom Systemversagen ab: Die Gefühle der Frustration sollen auf einen Außenfeind projiziert werden, sonst kämen die Menschen ja noch auf die Idee, dass mit dem entfesselten Finanzkapitalismus etwas nicht stimmt. Beispiel: Griechenland. Die Eliten in Europa hatten 2010 nach der Finanzkrise - deren tieferliegende Ursache sie letztlich nie durchschaut hatten - ein mulmiges Gefühl. Mit Griechenland war dann der ideale Schuldige gefunden: Der griechische Staat, der noch dazu bei den Budgetzahlen geschummelt hat. Die europäischen Eliten konnten nun sagen: Die Griechen waren’s. War erst einmal der Schuldige gefunden, mussten sich die Eliten nicht mehr damit auseinandersetzen, wie es überhaupt zu dieser Finanzkrise kommen konnte. Ich befürchte, die Dauerkrise wird sich so lange fortsetzen, bis Teile der Eliten den Gedanken zu denken wagen, dass die vorherrschende Weltanschauung des Neoliberalismus an sich die Hauptursache der Krise ist. Noch ein Satz zu Griechenland: Was mit dem Land gemacht wurde, ist ein unfassbarer Skandal. Das war ja schon beinahe ein griechischer Morgenthau-Plan. (Der Morgenthau-Plan war ein 1944 vom US- Finanzminister Henry Morgenthau ersonnenes Konzept, Deutschland nach dem Krieg in einen Agrarstaat umzubauen. Das sollte verhindern, dass Deutschland je wieder einen Angriffskrieg führen könne, Anm.)

Die Menschen erleben die derzeitige Krise als Dauerkrise oder als Krise in Zeitlupe.

Das verändert auch, wie die Menschen damit umgehen. Jeder versucht halt, sich da irgendwie durchzuwursteln. Der vielleicht nachhaltig wirksamste Sieg der neoliberalen Ideologie ist, dass diese von den Opfern selber aus Not übernommen wird. Die Menschen beuten sich dann als Selbständige selbst aus. Und sie organisieren sich auch nicht mehr wie früher in Gewerkschaften oder Interessenverbänden, sondern jeder versucht, selbst mit der Misere fertig zu werden.

Thema Brexit: Manche meinen ja, im Austritt Großbritanniens aus der EU und dem erratischen Kurs von US-Präsident Donald Trump lägen auch Chancen für Europa.

Kontinentaleuropa hat die Deindustrialisierung nie derart radikal vorangetrieben, wie Großbritannien das gemacht hat. Wenn Europa sich dessen besinnt, dass unsere Stärken in der Realwirtschaft liegen und diese Stärken mit unserem Sozialsystem zu tun haben, dann kann der Kontinent gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.

Stephan Schulmeister ist seit 1972 beim Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo in Wien tätig und ist ein scharfer Kritiker des Neoliberalismus. Er fordert einen alternativen Wirtschaftsansatz im Geiste des New Deal von Franklin D. Roosevelt.