Die Sekte Boko Haram fordert einen islamischen Gottesstaat und überzieht Nigeria mit Terror. Ex-Präsident | Olusegun Obasanjo fordert eine Doppelstrategie gegen derartige Fundamentalisten: Armutsbekämpfung und Härte.
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Wien. Nigerias früherer Präsident Olusegun Obasanjo ist einer der "Elder Statesmen", die in Wien gerade das InterAction Council (siehe Kasten unten) besuchen. Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihm über das Zusammenleben von Moslems und Christen in seinem Heimatland, über die Sekte Boko Haram, die im Kampf für einen islamischen Gottesstaat bereits tausende Zivilisten getötet hat, sowie über Erdöl und Armut.
"Wiener Zeitung": Sie besuchen in Wien ein Treffen, bei dem über Ethik und Religion in der Politik diskutiert wird. Ist nicht gerade Nigeria ein Land, das besonders unter Trennlinien und Spannungen zwischen Moslems und Christen leidet?
Olusegun Obasanjo: Das ist eine zu oberflächliche Sichtweise. Ja, Nigeria ist in eine christliche und moslemische Bevölkerungshälfte geteilt, die fast gleich groß sind. Aber: Die Trennlinien sind nicht klar, sie verschwimmen. Ich selbst (Obasanjo ist Christ, Anm.) habe eine muslimische Schwester, weil sie einen Moslem geheiratet hat. Unsere tatsächlichen Probleme sind Armut und zu wenige Bildungsmöglichkeiten. Diese Grundprobleme werden schnell mit Religion übertüncht. Nehmen wir als Beispiel die Lage in Jos (Region in Nigeria, in der es immer wieder zu tödlichen Zusammenstößen zwischen Christen und Moslems kommt, Anm.). Dort leben einerseits Christen und Animisten, die sesshafte Bauern sind, und andererseits Moslems, die vor hunderten Jahren dorthin emigriert und nomadische Viehzüchter sind. Wenn ihr Vieh über die Felder der Bauern zieht, dann ist deren Ernte zerstört. Es ist ein Landkonflikt, der plötzlich als religiöser angesehen wird.
Ist damit auch die terroristische Sekte Boko Haram, die in ganz Nigeria die Scharia einführen will, vor allem ein soziales Phänomen?
Zunächst einmal: Boko Haram tötet Christen und Moslems, ohne Unterschiede zu machen. Wenn man nach den tieferen Beweggründen sucht, stößt man auch hier auf Armut, Arbeitslosigkeit und eingeschränkte Bildungsmöglichkeiten. Verstärkt wird das Problem noch durch Drogen-, Waffen- und Menschenhandel.
Wie sollte nun dieser Gewalt und diesem Fundamentalismus, der sich ja auch in anderen westafrikanischen Staaten breitmacht, begegnet werden?
Dieses Problem mus man mit Zuckerbrot und Peitsche lösen. Das Zuckerbrot, das sind gute Regierungsführung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und Bildungsmöglichkeiten. Wenn das unternommen wird und es nichts nützt, dann muss man den Extremisten mit der Peitsche begegnen.
Dem nigerianischen Militär werden aber Vorwürfe gemacht, dass es bei der Bekämpfung von Boko Haram wenig Rücksicht auf Opfer unter der Zivilbevölkerung nimmt.
Wenn man gegen einen Aufstand nur militärisch vorgeht, wird man früher oder später unschuldige Zivilisten töten, was nicht passieren sollte. Die gegenwärtige Regierung hat zu viel Gewicht auf eine militärische Lösung gelegt und sozial nicht genug unternommen.
Es bleibt aber die Frage, warum es in Nigeria so viel Armut gibt. Das Land besitzt viel Erdöl.
In Nigeria müssen wir von einer schlechten Regierungsführung sprechen, und Korruption und schlechtes Management sind Teil von ihr. Aber man sollte auch Vergleiche ziehen: Saudi-Arabien produziert täglich fünf Mal so viel Erdöl wie wir, hat aber nur etwa 25 Millionen Einwohner. Nigeria hingegen hat 180 Millionen Einwohner. Aber ich bin der Erste, der einräumt, dass wir uns verbessern können.
Sie waren selbst von 1999 bis 2007 Präsident. Haben Sie etwas gegen diese Missstände, die Sie kritisieren, unternommen?
Ja, das habe ich. Ich habe Standards zur Bekämpfung der Korruption gesetzt und Institutionen dafür aufgebaut. Wenn die Nachfolgeregierung diesen Weg weitergegangen wäre, dann wäre die Situation viel besser. Aber stattdessen wurden etwa zwei von mir ins Leben gerufene Anti-Korruptions-Behörden wieder abgeschafft.
Afrika hat derzeit aber auch ein großes Wirtschaftswachstum. Manche Politiker und Ökonomen sprechen gar von einer afrikanischen Renaissance. Sehen Sie die Entwicklung des Kontinents ähnlich positiv?
Wir haben nun zwar eine Mittelschicht und afrikanische Milliardäre. Aber gleichzeitig wächst der Graben zwischen Reich und Arm. Die untersten zehn Prozent der Bevölkerung wissen nicht einmal, was sie am nächsten Tag essen werden. Dagegen müssen wir vorgehen, wir müssen dieses Problem politisch lösen und dürfen es nicht den Marktkräften überlassen. Denn diese sind blind, wenn es darum geht, solche Entwicklungen zu verhindern und die Ursachen der Armut zu bekämpfen. Zudem brauchen wir ein noch stärkeres Wirtschaftswachstum - auch weil wir so eine hohe Geburtenrate haben. Afrika hat ein Wachstum von sechs, sieben Prozent, wir benötigen aber ein zweistelliges - wie es China 30 Jahre lang geschafft hat.
Wie wird Nigeria bei der Fußballweltmeisterschaft abschneiden?
Wir werden sie gewinnen.
Das INterAction Council: Wien ist derzeit der Treffpunkt von gut einem Dutzend früherer Staatschefs und Premiers sowie von Religionsgelehrten des Christentums, des Islams und des Buddhismus. So konnten etwa Bundespräsident Heinz Fischer und Ex-Kanzler Franz Vranitzky den früheren französischen Präsidenten Valery Giscard d’Estaing (im Bild vorne) und den deutschen Altkanzler Helmut Schmidt (im Bild hinten) begrüßen. Grund für die Zusammenkunft ist das InterAction Council (IAC).
Bei diesem Forum finden bis Donnerstag Diskussionen zum Thema "Ethische Prinzipien im politischen Handeln" statt. In den 1980er Jahren initiiert, will das IAC laut Eigenbeschreibung "praktische Lösungen für die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Menschheit" suchen und vorschlagen. Franz Vranitzky ist Vorsitzender des IAC.
Olusegun Obasanjo war von 1976 bis 1979 und von 1999 bis 2007 Präsident Nigerias. Der 77-Jährige machte zunächst in der Armee Karriere. Während der Militärdiktatur in den 1970er Jahren stand Obasanjo rund drei Jahre an der Staatsspitze, übergab dann aber die Macht an einen gewählten Präsidenten. Als später abermals das Militär in Nigeria herrschte, war er von 1995 bis 1998 politischer Häftling des Diktators Sani Abacha. Nach der Rückkehr zur Demokratie gewann Obasanjo 1999 und 2003 die Präsidentschaftswahlen. Obasanjo ist zudem Mitbegründer von Transparency International, einer Organisation, die international gegen die Korruption kämpft.