In Kairo hat das Volk den Platz seines Sieges gereinigt. Der Oberste Militärrat setzte zum Großreinemachen an: Das Parlament mit der im Vorjahr von Hosni Mubarak erschwindelten Vier-Fünftel-Mehrheit für dessen Lakaien ist aufgelöst, seine Willkür-Verfassung gestrichen, die Garantie der Machtübergabe an eine Zivilregierung geschworen und eine demokratische Wahl in sechs Monaten festgelegt. Dazu bedarf es aber einer neuen Verfassung, über der schon eine Verfassungskommission brütet. Nicht zuletzt hat die Revolte der Jugend und der Frauen die Dunstglocke der Angst über Ägypten verblasen.
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Doch der Armee steht jetzt ein gründlicher Hausputz bevor. Zwar hat sie ein blutiges Chaos verhindert, weil sie sich neutral verhielt und damit Mubarak die Machtbasis entzog. Aber jetzt ist die Abrechnung fällig: Das von Mubarak getürkte Budget dotiert die Armee mit rund 4,5 Milliarden Euro, also rund 17 Prozent der Staatsausgaben oder fast so viel wie das Budgetdefizit. Die USA gewähren Ägypten noch rund 800 Millionen Euro Militärhilfe obendrauf. Diese Armee ist Ägyptens größtes Wirtschaftsunternehmen, trägt Mitverantwortung für die horrende Korruption, genießt pharaonische Privilegien und hält ihre höheren Offiziere mit fetten Pfründen bei der Stange.
Wozu und gegen wen benötigt Ägypten die mit 500.000 Mann und dreijähriger Wehrpflicht größte aller arabischen Armeen, obschon Millionen ohne Arbeit und Perspektive im Elend vegetieren? Oder haben alle diktatorischen Generäle seit 1952 diese Armee nur aufgebaut, um sich dem Westen als Garanten der Stabilität gegen die Muslimbruderschaft anzudienen? Dabei unterlief ihnen ein polit-psychologischer Fehler. Sie überließen den Muslimbrüdern die Schulbildung und die Krankenfürsorge unter den Fellachen, um die sich die Profiteure des Regimes nicht kümmerten. Das förderte die Popularität der Muslimbrüder. Mangels repräsentativer Wahlen schätzt man ihr Wählerpotenzial auf 15 bis 30 Prozent.
Die Muslimbrüder geben sich jetzt auffallend zahm. Es fruchtet wenig, ihren Rivalitäten, Abspaltungen und vieldeutigen Erklärungen nachzuspüren, da sie jetzt kein äußerer Druck mehr zu innerer Geschlossenheit zwingt. Sie predigen, dass Staat und Religion untrennbar seien, dass sie aber keinen "Gottesstaat" anstreben; dass die Sharia nur den Ordnungsrahmen, nicht aber das Rechtssystem bilde; dass die Frau wohl vor Gott dem Mann gleich, aber nicht sozial gleichberechtigt sei. Sie wissen auch, dass sie für die revolutionäre Jugend und die Frauen unattraktiv sind. Spekulationen über ihr politisches Gewicht ähneln der Lektüre des Kaffeesatzes.
Ungleich wichtiger ist, ob die Armeeführung ihre Versprechen hält. Weiß sie doch, dass ein Massenaufstand droht, wenn sie alle Macht an sich reißt. Ebenso wissen die Muslimbrüder, dass die Ägypter eine Militärdiktatur nicht gegen einen "Gottesstaat" eintauschen wollen.
Clemens M. Hutter war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".