Ob in Deutschland, Österreich oder Großbritannien: Überall in Europa wird eine diffuse Angst vor "zügelloser" Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte und die Furcht vor fremder Billigkonkurrenz immer spürbarer. Die bevorstehende EU-Osterweiterung wirft vor allem in Österreich und Deutschland als jenen Staaten, die von der Erweiterung am meisten betroffen wären, die Frage auf, inwieweit Europa zusätzliches Arbeitspotential überhaupt aufnehmen kann und ob dies zum Schaden der ansässigen Bevölkerung geschehen wird. Hier gehen die Meinungen der Experten und Interessensvertreter auseinander. Doch zumindest eines scheint fix: Zu einer neuen Völkerwanderung aus dem Osten wird es nicht kommen.
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Ausländer gesucht
Erst vor einigen Wochen sorgte die Forderung Bundeskanzler Schröders, über eine "Greencard-Lösung" dem heimischen Engpass an Softwarespezialisten zu begegnen für Aufregung. Man solle doch lieber in die eigene Jugend investieren und der Nachfrage entsprechend Bildungsprogramme starten, anstatt Ausländer ins Land zu holen, empörten sich Stimmen aus der oppositionellen CDU, die sich mit ihrer Kritik im Einklang mit Teilen der Gewerkschaft und Arbeitsmarktverwaltung fanden. Dessen ungeachtet stieß Schröders Vorstoß anderswo auf viel Gegenliebe: Denn besonders im Bereich der Sozialdienste, hier vor allem bei der Altenpflege würde man dringend Nachschub aus dem Ausland benötigen, so eine Berufsvertreterin.
Auch in Spanien, Großbritannien und der Niederlande werden Gastarbeiter vor allem im Bereich der Landwirtschaft und des Pflegewesens dringend gesucht. Österreich hat bereits die Konsequenzen aus diesen Entwicklungen gezogen und sein Kontingent an Arbeitsbewilligungen für Saisonarbeiter signifikant erhöht.
Bei einem Großteil der in Frage kommenden Jobs handelt es sich nicht um attraktive und hochbezahlte Beschäftigung sondern um Tätigkeiten, die für lokal ansässige Arbeitslose viel zu unattraktiv sind oder überhaupt unter jeder Zumutbarkeitsschwelle liegen: Kaum ein Brite lässt sich für eine ganze Erntesaison in einem engen Metallcontainer unterbringen, nur wenige Deutsche nehmen die physischen und psychischen Strapazen auf sich, die mit der Alten- und Sterbendenpflege verbunden sind.
Wirtschaftswunder
Doch diese Probleme sind alle nicht neu: Schon zu den Zeiten des Wiederaufbaus während fünfziger und sechziger Jahre waren die westeuropäischen Industrienationen auf den "Import" von Arbeitskräften für ihre Niedriglohnbranchen angewiesen. So wurden von Großbritannien vor allem Inder in großer Zahl ins Land geholt, um die boomende Wirtschaft in Gang zu halten.Hierzulande holte sich die Wirtschaft ebenfalls gezielt ausländische Arbeitskräfte ins Land: 1962 wurde ein Anwerbeabkommen mit Spanien geschlossen, 1964 mit der Türkei und 1966 mit Jugoslawien. Die Anzahl der in Österreich beschäftigten Ausländer stieg dementsprechend von 21.500 im Jahr 1962 auf 111.715 im Jahr 1970.
Das Kontingent der jeweils zugelassenen Gastarbeiter war dabei streng an den jeweiligen Stand der Wirtschaftskonjunktur gekoppelt: Als 1973 der Ölpreis schockte und zur Rezession von 1974/75 führte, verringerte sich die Zahl ausländischer Arbeitskräfte im Zeitraum von 1974 bis 1976 um mehr als 50.000.
EU-Osterweiterung
Nach zwei Jahrzehnten der wirtschaftlichen Stagnation und des kontinuierlichen Anstiegs der Arbeitslosenzahlen wird nun innerhalb der EU wieder über Einwanderungsreglements nachgedacht. Der Grund dafür ist die anstehende Osterweiterung. Eine gemeinsame Position der Fünfzehnergemeinschaft für die aktuellen Verhandlungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im größer werdenden Binnenmarkt ist noch immer nicht absehbar. Seit einem ersten Vorstoß von EU-Kommissar Günter Verheugen machen in Brüssel Überlegungen zu sogenannten "Branchenspezifischen Einwanderungsregelungen" die Runde. Es werden dabei "indexierte Modelle" diskutiert, die Zuzugsquoten vom Einkommensabstand zwischen Ziel- und Herkunftsländern abhängig machen.
Österreichische Vorbehalte
Obgleich EU-Sozialkommissarin Anna Diamantopoulou keine grösseren Probleme im Bereich der Arbeitsmigration sieht, wollen Deutschland und Österreich einer EU-Osterweiterung ohne Schutzklauseln für die heimischen Arbeitsmärkte nicht zustimmen:
Das, was den Sozialpartnern in Österreich und hier vor allemder Wiener Arbeiterkammer Kopfzerbrechen bereitet ist, dass der Großraum Wien von den Ballungszentren der Beitrittswerberländer aus mit dem Auto oder Zug relativ rasch erreichbar ist. Tagespendler könnten also die hohen österreichischen Löhne mit den geringen heimischen Lebenskosten kombinieren - und dabei noch das österreichische Lohnniveau in einigen Bereichen gehörig drücken, so die Befürchtungen.
Nach jüngsten Untersuchungen werden sich für Österreich und Deutschland nach der EU-Osterweiterung tatsächlich in einigen Niedriglohnbereiche, wie in der Textilindustrie und wenig qualifizierten Dienstleistungen sowie in der Baubranche Probleme ergeben, während andere, hochtechnisierte Sektoren von einer Markterweiterung profitieren sollten. Der Präsident der Arbeiterkammer, Herbert Tumpel forderte daher die Österreichische Regierung auf, für einen entsprechenden Schutz des heimischen Arbeitsmarktes zu sorgen und Kriterien für die Zulassung von Pendlern zu entwickeln. Dabei sei laut Tumpel auf die Aufnahmefähigkeit des heimischen Arbeitsmarktes genauso Rücksicht zu nehmen wie auf die jeweiligen Arbeitslosenraten der Beitrittskandidaten.
Der ÖGB schlägt in die gleiche Kerbe: die Gewährung der vollen Freizügigkeit auf den Arbeitsmärkten sowie bei den Dienstleistungen solle laut Positionspapier erst dann ermöglicht werden, wenn die Reformstaaten zumindest 80 Prozent des österreichischen Lohnniveaus erreicht hätten. ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch verlangt in diesem Zusammenhang eine gezielte Förderung der grenznahen Gebieten. Die Region Györ in Westungarn könne dabei laut Verzetnitsch als Vorbild dienen.
Auch der Österreichische Wirtschaftsbund spricht sich für "flexible Übergangsfristen" bei der Einführung der Dienstleistungsfreiheit aus. Vorbedingung sei die Herstellung der EU-Umweltschutz und Sozialstandards in den Beitrittsländern, da aufgrund unterschiedlicher Mindeststandards mit Wettbewerbsverzerrungen zu rechnen sei.
Die Bundesregierung schließt sich diesen Erwägungen bisher weitgehend an, wenn sie im Zuge der Beitrittsverhandlungen eine generelle Übergangsfrist von mindestens zehn Jahren für erforderlich hält.
Die Deutschen sind dagegen bei öffentlichen Forderungen zur Begrenzung der Freizügigkeit äußerst zurückhaltend. In Regierungskreisen geht man ausdrücklich auf Distanz zur Wiener Position; wesentlich sinnvoller als Pauschallösungen seien differenzierte Regelungen, die die Auswirkungen auf einzelne Branchen und Regionen berücksichtigen.
Was die Länge eventueller Übergangsfristen angeht, wird von den Befürwortern des uneingeschränkten Personenverkehrs immer wieder auf die Süderweiterung verwiesen.
Damals beschloss die EG, Beschäftigten aus Spanien und Portugal die volle Freizügigkeit erst nach sieben Jahren zu gewähren, diese Frist wurde später auf sechs Jahre verkürzt. Während dieser Übergangszeit erhielt jährlich ein Kontingent von 6000 Portugiesen und 1000 Spaniern eine "Greencard".
Aber auch nach der Gewährung der vollen Freizügigkeit wäre es weder in Deutschland noch in Österreich zu Masseneinwanderungen gekommen, argumentieren die Befürworter einer vorbehaltlosen EU-Erweiterung. Im Gegenteil, die Zahl spanischer Arbeitnehmer in Deutschland wäre sogar zurückgegangen, während es umgekehrt jährlich über 15 000 Beschäftigte aus dem Norden auf die iberische Halbinsel ziehe. Umstritten ist jedoch, inwieweit sich diese Erfahrungen auf die heutigen Beitrittsbewerber übertragen lassen:
Wissenschaftliche Studien
Verlässliche Untersuchungen über die zu erwartenden Migrationsbewegungen sind schwierig zu erheben, denn die Ergebnisse liegen je nach Methodik und Annahmen weit auseinander. Der international bekannte Soziologe Ulrich Beck ist grundsätzlich davon überzeugt, dass der Wirtschaftsfaktor "Arbeit" lokal begrenzt ist. Die Mobilität von Arbeitenden ist seiner Meinung nach durch zu viele Faktoren eingeschränkt, als dass sie global wirklich relevant werden könnte: Verbindungen zu Familie, heimischen Institutionen, sowie Kultur und Sprachbarrieren schränken die Migrationsbereitschaft ein
Die Statistik gibt Beck recht:. Zur Zeit arbeiten nur 1,5 Prozent der globalen Arbeitskraft außerhalb ihres Herkunftslandes, die Hälfte von ihnen konzentriert sich auf Afrika und den Mittleren Osten. Auch in der EU haben insgesamt nur zwei Prozent der nationalen Arbeitsbevölkerung je in einem anderen Land der Gemeinschaft gearbeitet.
Die Kommission in Brüssel beruft sich vor allem auf Daten und Modelluntersuchungen eines Konsortiums von verschiedenen Forschungsinstituten, dem "European Integration Consortium" -(EIC). Nach Berechnung dieser Forschungsstellen seien seit dem Fall des Eisernen Vorhangs rund 850.000 Menschen aus den zehn mittel- und osteuropäischen Beitrittswerberländern (MOEL) in die EU ausgewandert. Das waren nur etwa 15 Prozent aller Neuimmigranten. Einer dauerhaften legalen Beschäftigung in der EU gingen etwa 300.000 Arbeitnehmer aus den MOEL nach, was nur 0,2 Prozent der gesamten EU-Erwerbsbevölkerung und 6 Prozent aller Nicht-EU-Beschäftigten entspricht.
Am höchsten sind die Quoten in Österreich, wo MOEL-Bürger einen Anteil von 1,2 Prozent an der Erwerbsbevölkerung haben und in Deutschland mit einem Anteil von 0,4 Prozent. Etwa 70 Prozent aller in der EU beschäftigten Arbeitnehmer aus der MOEL halten sich in Österreich und Deutschland auf. Aber auch hier kommt nur jeder zehnte ausländische Beschäftigte aus einem der Beitrittskandidaten.
Der Untersuchung des EIC zufolge würden aus der so genannten Luxemburg - Gruppe (Polen, Tschechische Republik, Ungarn, Slowenien, Estland) nach dem Beitritt bis zu 150.000 Menschen in die EU kommen. Innerhalb von zehn Jahren würde sich diese Zahl jedoch auf 65.000 stabilisieren. Für alle zehn mittel-und osteuropäischen Staaten wäre das ein Einwanderungspotential von 330.000 Menschen, wobei die Immigration innerhalb eines Jahrzehnts auf etwa 145.000 Menschen im Jahr sinken werde.
Konjunkturelle Impulse
Für sich allein genommen sagen diese pauschalen Zahlen nicht sehr viel darüber aus, welche Folgen die Osterweiterung für den EU-Arbeitsmarkt haben wird. Entscheidender als die Anzahl der Immigranten wird sein, dass die Integration der neuen Mitgliedsstaaten neue konjunkturelle Impulse schafft und die wirtschaftliche Dynamik in Europa verstärkt.
Und gerade für Österreich, wo die Sorgen über den Einwanderungsdruck am grössten sind, dürfte auf Dauer gesehen am meisten von der Erweiterung profitieren. Ein Wachstumsschub von bis zu einem Prozent erscheint durchaus realistisch, meinen heimische Wirtschaftsforscher.