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Brautleute in Zeiten der Pest

Von Oliver vom Hove

Reflexionen
Alessandro Manzoni (1785-1873), porträtiert von Francesco Hayez (1841).
© Public domain / Wikimedia Commons

Vor 150 Jahren, am 22. Mai 1873, starb der italienische Nationaldichter Alessandro Manzoni, Autor von "I Promessi Sposi".


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Es kommt selten vor, dass der Anfang eines Romans über Generationen hin zum Allgemeingut einer ganzen Nation wird. In Alessandro Manzonis Hauptwerk "I Promessi Sposi" (1827 in der ersten Fassung erschienen) wird im Eingangssatz mit lautmalerischer Eingängigkeit das pastorale Bild der Landschaft des Comer Sees vorgestellt, die der Autor als einen der wesentlichen Schauplätze seines Romans gewählt hat.

Melodiös wie die Kadenzen eines Liedes geleiten die Anfangssätze den Leser im italienischen Original in eine einzigartige topographische Lage, deren geschichtliche Prägung eine entscheidende Rolle im Roman spielen wird: "Quel ramo del lago di Como, che volge al mezzogiorno, tra due catene non interrotte di monti, tutto a seni e a golfi..." ("Jener Arm des Comer Sees, der sich nach Süden wendet und zwischen zwei fortlaufenden Gebirgsketten so buchtenreich ihrem Vordrängen und Zurückschwingen folgt ...")

Das Gedächtnis dieser Gegend, ihre Geschichte vor vier Jahrhunderten bis in den mailändischen Raum hinein diente dem Dichter Manzoni vor 200 Jahren als dramatischer Schauplatz für seinen historischen Roman, in dessen Hauptteil die hindernisreiche Liebesgeschichte eines jungen Paars aus einfachen Verhältnissen erzählt wird.

Manzoni schlägt ein großes kulturgeschichtliches Panorama Oberitaliens zwischen 1628 und 1630 auf - eine Zeit, geprägt von Gewalt, Adelswillkür, Hungersnot und Pest, aber auch von katholischer Glaubensfestigkeit, Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Eine Zeit zudem, die gepeinigt war vom Dreißigjährigen Krieg und der spanischen Fremdherrschaft in der Lombardei.

Liebespaar in Not

Die meiste Aufmerksamkeit zollt der Mailänder Manzoni dabei der Geschichte seiner Heimatstadt. Dort wurde er 1785 als Sohn adliger Eltern geboren: Der Vater war ein wohlhabender Gutsbesitzer, die viel jüngere, lebenslustige Mutter eine Tochter aus hochangesehener Juristenfamilie. Die Ehe der Eltern wurde bald geschieden, der herangewachsene Alessandro zog nach ausgiebiger Internatserziehung zur Mutter nach Paris, wo er französische Weltläufigkeit, aber auch aufgeklärtes Denken kennenlernte.

Zurück in Mailand, empfand der national bewegte Romantiker Manzoni die abwechselnde österreichische und napoleonische Herrschaft in der Lombardei als anhaltendes Unrecht und Unterdrückung der erwünschten Einheit Italiens. Nach zwei historischen Dramen, in denen Klage über die jahrhundertealte Zerrissenheit der nationalen Geschichte geführt wird, wandte sich der 36-jährige Dichter nach ausgiebigem Quellenstudium ab 1821 in seinem einzigen Roman der düstersten Epoche seiner Heimat zu.

Der schurkische Don Rodrigo: Illustration einer Ausgabe von 1840.
© Francesco Gonin / Public domain / via Wikimedia Commons

Der Bericht einer Chronik aus dem 17. Jahrhundert über Frauenraub diente als Anregung für die Handlung. Eine junge Frau soll als Männerbeute dienen: Dieses Schicksal droht dem Landmädchen Lucia in den Bergen oberhalb des Comer Sees. Lucia ist verlobt mit dem Seidenspinner Renzo, die beiden wollen heiraten. Doch wir sind im frühen 17. Jahrhundert, da gelten noch Willküransprüche von Feudalherren. Ein solcher ist der brutale und selbstherrliche Landedelmann Don Rodrigo, Statthalter der spanisch-habsburgischen Besatzungsmacht in Lecco und Gebieter über eine Privatarmee, die sich Bravi, die Tapferen, nennen.

Der Gewaltmensch Rodrigo will, um eine Wette zu gewinnen, Lucia an sich bringen und setzt alles daran, die Trauung des Paars zu verhindern. Zwar gelingt den beiden die Flucht, doch ihre Wege müssen sich trennen: Lucia wird vorübergehend in Monza in einem Kloster untergebracht, Renzo schlägt sich nach Mailand durch.

In der lombardischen Hauptstadt gerät der junge Bursche sogleich in einen Massenaufstand: Ein Krieg wütet, die Erntehelfer fehlen, das Getreide wird knapp. Das wiederum lässt den Brotpreis steigen, die Hungernden versammeln sich zur Rebellion und Renzo gerät mitten hinein. Die hin und her wogenden, drängenden, schiebenden Massen in Worten zu bannen, zeigt den gewiegten Erzähler Manzoni ganz in seinem Element. Er wechselt von der Vergangenheits- in die Gegenwartsform und lässt wie wohl keiner vor ihm so nüchtern realistisch den Ausbruch einer Massenhysterie vor dem Leser abrollen.

Als der spanische Großkanzler und Volkstribun Antonio Ferrer auftaucht, "durchläuft von einem Ende her eine ungewöhnliche Bewegung die Menge". Es gelingt Ferrer, die Notlage abzuwenden und die aufgebrachte Menge zu besänftigen: "Er erschien, um eine übel erworbene Popularität nun wenigstens gut anzuwenden."

Groß angelegt ist Manzonis Geschichtsbild, gekonnt wechselnd zwischen überlieferter Historie und imaginiertem Erzählstoff. Hier unterscheidet sich der Romantiker Manzoni von seinem Vorbild Sir Walter Scott. Denn während der "Vater des historischen Romans" bedingungslos auf Faktenrealismus setzte, suchte Manzoni die Inspiration durch das historische Wissen, um es als Ergänzung seiner durch Vorstellungskraft beschworenen individuellen Geschichte zu nützen.

Die Pest - ein Betrug?

Weltverständnis und Tatsachensinn bilden die Substanz von Manzonis anschaulicher Erzählkunst. Geschickt springt der Autor zuweilen in die Perspektive seiner Figuren, lässt das Geschehen aus deren Sicht erleben. Dazu erfand er, lange vor Valery Larbaud oder Arthur Schnitzler, den inneren Monolog, entwickelte ganz allgemein eine fein abgestimmte, an Registern reiche Erzählweise.

Lucia wird entführt: Illustration einer Ausgabe von 1840.
© Francesco Gonin / Public domain / via Wikimedia Commons

Kraftvoll wird das Geschehen vorangetrieben. Es geht um Männersache, Männerkampf, Männerhass. Als Lucia im Auftrag Rodrigos geraubt und auf der Felsenburg eines lokalen Tyrannen gefangengesetzt wird, vermögen nur dessen spätere Einsicht und Reue ihre Freilassung zu erwirken. Die Männer sind gefangen im misogynen Vorurteil ihrer Zeit, dass die Frauen keine eigenen Entscheidungen treffen sollen. In der eingefügten Geschichte der Nonne Gertrude, die von ihrem Vater mit Nachdruck zum Klostereintritt verpflichtet wurde, klagt Manzoni die Unterdrückung von Frauen an, die durch die gesellschaftlichen Umstände in einem patriarchalen Herrschaftssystem zum Zwangseintritt ins klösterliche Leben gedrängt wurden.

Die Heimsuchung Oberitaliens durch die Pest, die 1630 durch deutsche Kriegssöldner eingeschleppt wurde, wird von Manzoni ausführlich und historisch verbrieft dargestellt. So kann man nachlesen, mit welchen Hassausbrüchen und wütenden Racheakten die Gesundheitsbehörden und Ärzte in Mailand konfrontiert waren, die spät, aber doch entschiedene Maßnahmen von Hygiene und Quarantäne getroffen hatten: "Sie sahen eine furchterregende Geißel herannahen, bemühten sich in jeder Weise, sie abzuwenden, stießen auf Hindernisse, wo sie Hilfe suchten, und zur gleichen Zeit waren sie Zielscheibe des Geschreis und bekamen den Namen von Vaterlandsfeinden."

Verschwörungserzählungen kursierten im "ignoranten Volk", manche hielten die Krankheit für "einen elenden Schwindel, ja Betrug mit Worten", andere für eine Erfindung ausländischer Mächte, "um Mailand zu entvölkern und dann mühelos einzunehmen". Betrübt resümiert Manzoni: "Aber zu reden, einfach draufloszureden, ist soviel leichter als alles andere zusammen, sodass auch wir, ich meine wir Menschen überhaupt, ein wenig zu bedauern sind."

Eine wesentliche Rolle als zupackender Helfer und mildtätiger Beförderer der Nächstenliebe in der Pestepidemie schreibt Manzoni dem kunstfreundlichen Kardinal Federigo Borromeo zu, dem Stifter der Mailänder Bibliothek Ambrosiana. "Prüfstein der Worte ist das Leben", heißt es im Exkurs über den aufgeklärten Humanisten - ein Exkurs, der Goethe wegen seiner katholischen Hagiographie missfallen hat. Auch Lucia gerät in Mailand in die Wirren der Pestepidemie und kann dank der Mithilfe des Kardinals von ihrem Verlobten erst nach vielen Nachforschungen in die Arme geschlossen werden.

© Hanser

Goethe hat viel gelobt in seinem Leben, doch die "Promessi Sposi", die er gleich nach dem Erscheinen im Sommer 1827 zu lesen bekam, hat er trotz des genannten Einwands geliebt. Gegenüber Johann Peter Eckermann schwärmte er, "dass Manzonis Roman alles überflügelt, was wir in dieser Art kennen". Es war auch Goethe, der noch im selben Jahr den jungen Übersetzer Daniel Lessmann ermunterte, eine Übertragung ins Deutsche zu erstellen.

Seit damals segelt das Erzählwerk bei uns nahezu ausnahmslos unter dem Titel "Die Verlobten" (so auch in der noch immer sehr frischen Übersetzung des Stefan-George-Adepten Ernst Wiegand Junker), wo doch die korrekte Übersetzung des Titels "Die Brautleute" lautet (wie in der jüngsten, literarisch anspruchsvollsten Eindeutschung von Burkhart Kroeber, die 2011 bei Hanser erschienen ist).

Nationaler Klassiker

Die Wertschätzung Goethes für Manzoni reichte indes länger zurück. 1821 hatte der Mailänder Dichter eine Ode auf den Tod Napoleons geschrieben, die Goethe, gleichfalls ein Bewunderer des französischen Kaisers, sogleich übersetzte. Percy Shelley hingegen klagte den Kriegsherrn als Schlächter von Millionen an ("eine Lawine von Zerstörung von der Geburt bis zum Tod"). Auch die Mehrheit der deutschen Romantiker, vor allem Kleist, Arnim und Friedrich Schlegel, sahen in dem Korsen einen verhängnisvollen Verderber der politischen Ordnung in Europa. Später bekannte auch Manzoni ein, dass "Napoleon kein gutes Herz hatte", und bereute seine Lobeshymne.

Manzonis groß angelegtes Erzählwerk ist noch immer eine viel gelesene Meisterleistung der Weltliteratur. Bezaubert waren die Leser vom ersten Erscheinen des Buchs an. Zu verführerisch entfalteten sich die thematischen Ingredienzien Historie, Landschaftszauber und Liebeskampf um eine begehrte junge Frau.

Mit seinem in der Endfassung (1840-1842) ganz der toskanischen Hochsprache angepassten Roman trug Manzoni entscheidend zur sprachlichen Einigung Italiens bei, die 1861 auch politisch vollzogen wurde. Als der Verfasser der "Promessi Sposi" am 22. Mai 1873 starb, trauerte ganz Italien. Manzoni hatte in seiner Heimat längst den Rang des Nationaldichters erreicht. Ihm zu Ehren komponierte Giuseppe Verdi sein Requiem, das am ersten Todestag des Dichters 1874 uraufgeführt wurde.

Alessandro Manzoni: Die Brautleute. Übersetzt von Burkhart Kroeber. Hanser, München 2011, 920 Seiten, 45,30 Euro.

Oliver vom Hove lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.