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Breiviks Entmystifizierung

Von Ronald Schönhuber

Analysen

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Die ersten Beschreibungen der Überlebenden auf Utöya ließen Anders Behring Breivik als fast schon übermenschliches Monster erscheinen: Fast zwei Meter groß, mit seinem halbautomatischen Ruger-Gewehr unablässig nach neuen Opfern Ausschau haltend und ohne jeden Anflug von Gnade oder Mitleid. Und auch in den ersten Tagen des Prozesses pflanzte sich das Bild fort. Breivik saß emotionslos im Gerichtssaal, wenn er am Wort war, schilderte er den 77-fachen Mord bis ins grausamste Detail und brüstete sich mit seinen Taten.

Dass die vorsitzende Richterin Wenche Elizabeth Arntzen den 33-Jährigen dabei oft gewähren ließ, legte man ihr zu Beginn oft als Schwäche aus. Dass Staatsanwälte und Richter Breivik zur Begrüßung die Hand schüttelten, wurde als unangebrachte nordische Respekterweisung kritisiert. Doch je weiter der Prozess voranschritt, umso klarer wurde, dass man den Norwegern mit dem Vorwurf mangelnder Härte und übertriebener Korrektheit unrecht getan hat. An der langen Leine entzauberte sich Breivik Stück für Stück selbst. Auf die ruhigen und doch drängenden Fragen von Staatsanwältin Inga Bejer Engh nach Geheimtreffen und Ideengebern konnte Breivik oft nur stockend antworten, immer wieder verstrickte er sich dabei in Widersprüche. Jener Mann, der so viele Menschen kaltblütig ermordet hatte, erschien in den von Engh geführten Verhören auf einmal wie ein kleines Kind, das bei einer Lüge ertappt wurde.

Als Engh dann ebenso ruhig ausführte, dass Breivik sich einer Nasenoperation unterzogen hatte, um nordischer auszusehen, oder dass er fast ein Jahr durchgehend mit Computerspielen verbrachte, verlor der 33-Jährige endgültig die Fassung und warf der Staatsanwältin vor, ihn lächerlich machen zu wollen. Viel öfter tat er das aber wohl selbst - etwa als er sich im Zeugenstand als "eigentlich als sehr netten und fürsorglichen Menschen" bezeichnete.

Auch für die meisten Opfer hat Breivik im Lauf des Prozesses seinen Schrecken verloren. Hatte auf Utöya noch er allein das Handeln bestimmt, begegneten ihm die Opfer vor Gericht teils überaus selbstbewusst. So hatte ein junges Mädchen für seinen Auftritt im Zeugenstand demonstrativ ein ärmelloses Oberteil gewählt, damit Breivik den verkrüppelten Arm sehen konnte, der nun dort anstelle des einst gesunden Körperteils baumelt.

"Das Verfahren hat Breivik zu einem menschlichen Wesen mit bösartigen Ideen gemacht", sagt sein Anwalt Geir Lippestad. Allerdings sind die Konsequenzen nicht unbedingt angenehm. Wäre er ein Monster geblieben, bliebe Norwegen auch die Frage nach den Ursachen des Hasses erspart.