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Breiviks langer Schatten

Von Ronald Schönhuber

Europaarchiv

Der 77-fache Mörder wird als schuldfähig eingestuft und zu 21 Jahren Haft verurteilt.


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Oslo. Zehn Wochen lang war er nahezu emotionslos dagesessen. Weder als die Staatsanwälte die grausamen Details der Ereignisse auf Utöya rekonstruierten, noch als die Opfer im Zeugenstand aussagten, zeigte Anders Behring Breivik eine Reaktion. Durchgegangen war es mit ihm lediglich einmal: Während das Gericht den von ihm produzierten Kurzfilm über die angeblich drohende Islamisierung Norwegens und Europas vorführen ließ, weinte Breivik – aus Rührung über sich selbst.

Als Richterin Wenche Elizabeth Arntzen am Freitag um kurz nach 10 Uhr das Urteil verkündete, huschte allerdings ein zufriedenes Lächeln über das Gesicht des Mannes, der Norwegen die größte Katastrophe seit Ende des Zweiten Weltkriegs bereitet hat. Mit seiner Einstufung als zurechnungsfähig und der Verurteilung zu einer 21-jährigen Haftstrafe hat Breivik das bekommen, was er selbst wollte. Der Doppelanschlag von Oslo und Utöya, bei dem der 33-Jährige 77 Menschen kaltblütig ermordet hat, sollte nicht als Tat eines Wahnsinnigen abgestempelt werden. Eine Einweisung in die Psychiatrie sei für ihn schlimmer als der Tod, hatte Breivik, der als politischer Aktivist mit einem legitimen Anliegen angesehen werden will, bereits vor Beginn des Prozesses erklärt.

Das Urteil des fünfköpfigen Richterkollegiums – zwei Berufsrichter und drei Laienrichter – fiel einstimmig. Ausschlaggebend für die Entscheidung, Breivik für zurechnungsfähig zu erklären, war laut Arntzen unter anderem, dass dieser sich während der Verhandlung sehr rational und überlegt auf neue Gegebenheiten eingestellt habe. Als der Attentäter etwa damit konfrontiert wurde, dass es die von ihm erwähnten geheimen Tempelritterzellen laut polizeilichen Nachforschungen gar nicht gebe, habe er seine Aussagen daran angepasst und die Darstellung in seinem 1500 Seiten starken Anti-Islam-Manifest als "pompös" und übertrieben bezeichnet.

Erleichterung bei den Opfern
Doch nicht nur Breivik hat am Freitag das bekommen, was er wollte. Auch für diejenigen, die das Massaker beim Sommerlager der Sozialistischen Jugend auf der Ferieninsel Utöya überlebt oder die dort ihre Söhne, Töchter verloren haben, ist das Urteil in gewissem Sinne eine Genugtuung. Sie hatten sich mehrheitlich dafür ausgesprochen, dass der Breivik, der seine Taten als Notwehrakt gegenüber der seiner Ansicht nach viel zu liberalen Einwanderungspolitik rechtfertigte, nicht in die Psychiatrie, sondern ins Gefängnis kommen sollte. "Wenn diese Person nicht rechtmäßig für ihre Taten verantwortlich ist, waren es dann die Nazis?", fragte etwa Claude Perreau, dessen 25-jähriger Sohn Rolf Christopher Breivik erschossen hatte, kurz vor der Urteilsverkündung.

Die Opfer und Angehörigen im Amtsgericht von Oslo reagierten auf das Urteil still und durchaus gefasst. "Ich bin zufrieden, auch wenn das vielleicht nicht das richtige Wort ist, und erleichtert", erklärte die Opferanwältin Mette Yvonne Larsen. "Viele meiner Mandanten haben sich bereits bei mir gemeldet. Sie sind der Ansicht, dass der Gerechtigkeit in diesem Fall genüge getan wurde, und sie sind glücklich, dass es nun vorbei ist und sie Breivik nie wieder sehen müssen."

Anders als bei einer Einweisung in die Psychiatrie scheint die Verurteilung zu einer Haftstrafe für die Opfer tatsächlich die Möglichkeit zu einem Abschluss mit den Ereignissen zu bieten. Breivik hatte schon vor dem Urteil erklärt, wenn man ihn für zurechnungsfähig erkläre, werde er die Strafe akzeptieren und nicht in Berufung gehen. Ein endloser juristischer Marathon durch die Instanzen dürfte den Norwegern, die bereits während des Prozesses ein Zuviel an Aufmerksamkeit für den Massenmörder beklagten, damit erspart bleiben. Am Freitag Abend erklärten auch die Staatsanwälte, das Urteil nicht anzufechten - damit könne der Richterspruch rechtskräftig werden, so Staatsanwalt Svein Holden.

Sein restliches Leben – an die in Norwegen mögliche Höchststrafe von 21 Jahren kann beliebig oft eine fünfjährige Sicherheitsverwahrung angeschlossen werden, falls der Verurteilte noch als Gefahr gilt – wird Breivik wohl im knapp außerhalb von Oslo gelegenen Ila-Gefängnis verbringen. In den vergangenen zehn Wochen hat man hier eigens einen Trakt umgebaut, um den 77-fachen Mörder unterzubringen – vorerst isoliert von allen anderen Häftlingen.

Norwegen ist nicht länger eine Insel abseits der Welt
Doch auch wenn man Breivik lebenslang wegsperrt und die Wunden vielleicht einmal verheilen, sind die verstörenden Fragen an die Zukunft, die durch die Attentate auf einmal ins Bewusstsein der Menschen gedrungen sind, alles andere als gelöst. Jahrelang sah man sich in Norwegen gewissermaßen losgelöst von den Problemen der übrigen Welt. Während der Rest Europas in der Rezession versank, sicherte der Ölreichtum vor der Küste auch in schwierigen Zeiten ein stabiles Wirtschaftswachstum. Der Wohlfahrtsstaat ist nach wie vor gut ausgebaut, und das starke politische und rechtliche System hält Korruption und Misswirtschaft in vergleichsweise engen Grenzen.
Doch mit der verstärkten Einwanderung in den vergangenen Jahren haben auch Fremdenfeindlichkeit und Anti-Islamismus deutlich zugenommen. Allerdings wurde das Thema, das so gar nicht zu den Grundwerten Offenheit und Toleranz passen wollte, ausgeblendet. "Nun ist uns aber bewusst geworden, wie gefährlich die Anti-Islam-Rhetorik werden kann", sagt Opferanwältin Larsen.

Doch wie man damit umgehen soll, ist umstritten. Während viele Norweger ihre offene Gesellschaft erhalten wollen, drängen die Sicherheitsdienste angesichts eines Berichts, der teils desaströse Polizeipannen im Umfeld des Breivik-Einsatzes offenbart hat, auf eine massive Ausweitung der Überwachungsbefugnisse. Anders Behring Breivik hat Norwegen zweifellos auf viele Jahre hinaus umgekrempelt.

Das Attentat
Am 22. Juli 2011 tötete der bekennende Rechtsradikale Breivik bei einem Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel und einem anschließenden Massaker auf der Insel Utöya insgesamt 77 Menschen. Die meisten Opfer waren Jugendliche im Alter zwischen 14 und 19 Jahren, die auf Utöya an einem Sommerlager der norwegischen Jungsozialisten teilnahmen.

Die zuvor im etwa 40 Kilometer entfernten Oslo gezündete Autobombe sollte die Polizei ablenken. Hier wurden acht Menschen durch die Wucht der Detonation und Trümmer getötet. Die Explosion verwandelte Teile der Innenstadt in eine Trümmerlandschaft. Auch das Büro von Ministerpräsident Jens Stoltenberg wurde verwüstet.