Europa auf dem Prüfstand: Die sensible Balance zwischen gemeinsamem Auftreten und Einzelinteressen von Mitgliedstaaten hat die EU in rechtliche Pattsituationen manövriert.
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Die Wahlen zum Europäischen Parlament vom 23. bis 26. Mai 2019, die Beteiligung der Wahlberechtigten in den doch noch 28 Mitgliedstaaten und das Ergebnis haben auch Zeugnis über die Einschätzung der Europäischen Union (EU) durch die Bürger gegeben. Gerade die sensible Balance zwischen gemeinsamem Auftreten und Einzelinteressen von Mitgliedstaaten hat die EU in rechtliche Pattsituationen manövriert, von Brexit bis Güterrechtsverordnungen und Asylpolitik. Europa ist auf dem Prüfstand, wie auch das Thema der 31. Europäischen Notarentage im April in Salzburg gezeigt hat.
Europa befindet sich, wie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zutreffend feststellte, in einer "Polykrise", das heißt, dem Zusammenwirken mehrerer Krisenelemente. Diese gilt es zu bewältigen, damit die europäische Einigung, die trotz aller Kritikpunkte und Defizite nach wie vor als Erfolgsgeschichte zu sehen ist, als solche fortgesetzt werden kann. Die Probleme Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion sowie Bewältigung der Asyl- und Migrationspolitik angesichts ihres unvorhergesehenen Ausmaßes und daher fehlender geeigneter Instrumente (wie die Fehlkonstruktion der Dublin-Verordnung zeigt) bestanden auch schon vor dem Brexit: der Absicht des Vereinigten Königreichs (VK), aus der EU auszutreten. Sie spielten aber bei der Auseinandersetzung um das zwar weder obligatorische noch rechtlich bindende, aber politische Bindungskraft entfaltende Referendum im Vereinigten Königreich eine Rolle.
Zwischen Einheit und politischer Gestaltungsfreiheit
Eine Grundfrage europäischer Einigung betrifft die Forderung "take back control" der "Brexiters". Nämlich die richtige Balance zu finden zwischen den auf die EU übertragenen und eventuell noch zu übertragenden Kompetenzen und den Zuständigkeiten, die gemäß dem Leitwort des nicht in Kraft getretenen Verfassungsvertrags, "In Vielfalt geeint", bei den Mitgliedstaaten und in deren politischer Gestaltungsfreiheit bleiben sollen. Denn die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine Integrationsgemeinschaft wie die EU führt zwangsläufig zur Einschränkung dieser eigenen politischen Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten.
Dies zu akzeptieren und nach innen zu vermitteln, fällt manchmal schwer, zumal dann, wenn im Rat der EU mit Mehrheit entschieden werden konnte und man - vor allem in politisch heiklen Fragen wie der in der Asylpolitik - überstimmt wurde. Wenn jetzt gefordert wird, in der Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik (GASP) einschließlich der Verteidigungspolitik (GSVP) den Grundsatz der Einstimmigkeit abzuschaffen, so bedürfte dies nicht nur einer Vertragsänderung, sondern stieße auch danach auf Fragen der Befolgung. Chancen bietet hier die verstärkte Zusammenarbeit der dazu entschlossenen Staaten, für die die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) bereits ein Beispiel liefert. An dieser beteiligt sich auch Österreich.
Die Brexit-Diskussion nach der Abgabe der Austrittsabsichtserklärung hat nicht nur gezeigt, wie eng die Mitgliedstaaten der EU bereits verbunden sind. Gleiches gilt übrigens für die Probleme der Lösung selbst eines Mitgliedstaats wie dem Vereinigten Königreich, der weder der Währungsunion noch dem Schengen-System angehört. Sie hat offenbar auch - jedenfalls in Österreich - zu einer wieder ansteigenden Wertschätzung der EU-Mitgliedschaft geführt: Nach Umfragen beträgt die aktuelle Zustimmung zum Verbleib 74 Prozent, während es im Frühjahr 2016 nur 60 Prozent waren. Zur Erinnerung: Bei der verfassungsrechtlich gebotenen Volksabstimmung 1994 stimmten 66,6 Prozent der Österreicher für den Beitritt.
Der Brexit gab aber auch Impulse für Überlegungen, wie die EU27 im Jahr 2025 aussehen sollen. Die EU-Kommission hat dafür in ihrem Weißbuch zur Zukunft Europas fünf Szenarien präsentiert ("Weiter wie bisher"; "Schwerpunkt Binnenmarkt"; "Wer mehr tun will, tut mehr"; "Weniger, aber effizienter"; "Viel mehr gemeinsames Handeln"), denen Juncker als sechstes Szenario eine Kombination von in diesen enthaltenen Elementen hinzufügte.
Die Frageder politischen Linie
Die Realisierung hängt aber von den politisch dafür Verantwortlichen ab. Das heißt, bei Vertragsänderungen von den Mitgliedstaaten als "Herren der Verträge", bei der Ausschöpfung vorhandener Kompetenzen von der Kommission, die grundsätzlich das Initiativmonopol für Gesetzgebungsvorschläge hat, und vom Unionsgesetzgeber, also dem Europäischen Parlament und dem Rat gemeinsam. Daher und weil das Europäische Parlament den Kommissionspräsidenten wählt, kam dem Ausgang der Europawahlen in der gegenwärtigen Situation der EU besondere Bedeutung zu.
Generell blieb das Erstarken der sogenannten Rechtspopulisten hinter den Erwartungen beziehungsweise Befürchtungen insgesamt zurück - allerdings mit nationalen oder auch regionalen Unterschieden. Erwartungsgemäß verlor sowohl die konservative Europäische Volkspartei EVP als auch die Sozialdemokratische Partei Europas SPE und damit auch die bisher gemeinsam erreichte absolute Mehrheit. Dies erfordert zum Beispiel für die Wahl des Kommissionspräsidenten neue Koalitionen mit den Grünen und den Liberalen, die durch die Beteiligung der Partei Macrons angewachsen sind und sich jetzt "Renew Europe" nennen.
Bei allen Europäischen Parteien (also Parteibündnissen) stellt sich die Frage, ob und inwieweit sie die Positionen der ihnen angehörenden nationalen Parteien auf eine politische Linie bringen können. Innerhalb einiger Mitgliedstaaten fielen die Ergebnisse abweichend vom allgemeinen Trend aus. So etwa in Italien mit dem Erfolg der Lega (bei gesunkener Wahlbeteiligung) oder in Österreich mit den deutlichen Gewinnen der ÖVP (bei deutlich gestiegener Wahlbeteiligung). Hinter den Kulissen wird derzeit über die Besetzung der Spitzenpositionen - neben dem Kommissionspräsidenten und anderen Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rates und der Europäischen Zentralbank - verhandelt. Es bleibt spannend, ob und inwieweit, gegebenenfalls modifiziert das Europäische Parlament das "Spitzenkandidaten-Modell" gegenüber dem Europäischen Rat behaupten kann.