Essay. Renaissance des europäischen Traums oder Schubumkehr: Nach dem Votum der Briten gegen Europa taumelt der Kontinent in die nächste Krise.
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Europa, Hort der Multi-Krise: Brexit, Flüchtlingskrise, Eurokrise. Immer, wenn man glaubt, es kann nicht schlimmer kommen, wird man eines Besseren belehrt. Lassen wir die Krisenserie am 15. September 2008 beginnen, als die Pleite der Investmentbank Lehman die Wall Street in den Abgrund riss. Damals meinten die Europäer, das sei ein Problem der Wall Street. Als die Wirtschaftskrise auf Island übergriff, tröstete man sich damit, dass Island kein Teil der EU ist. Als die Krise dann Griechenland, Irland, Spanien und Portugal erwischte, meinte man in Kern-Europa, das sei eben ein Problem der verächtlich als Club-Med-Staaten verunglimpften Südeuropäer.
Das verspielte Primat
Eine Generation von orientierungslos, kurzatmig und zänkisch gewordenen Politikern stritt von da an ums Geld, verhedderte sich im Dickicht des europäischen Institutionengeflechts und verlor sich in den komplexen Prozessen der "Brussels Bubble". In einer "Brüsseler Blase", einer abgeschotteten Parallelwelt der Kommissare und Beamten, der Europaparlamentarier und Lobbyisten, die schon vor der Krise der real existierenden europäischen Außenwelt entfremdet war. Doch in der Krise blickte diese europäische Außenwelt hoffnungsvoll in Richtung der Eurokraten und erhoffte eine Lösung oder zumindest eine Linderung der Krise.
Doch anstatt einem europäischen New Deal - in Anlehnung an das Konjunkturprogramm, mit dem Franklin Delano Roosevelt die USA nach dem Börsencrash von 1929 gerettet hatte - mit paneuropäischen Beschäftigungsinitiativen und Investitionsprogrammen - bekamen die europäischen Bürger Banken-Union und Sparpakete. Die politischen Eliten, das dämmerte den Bürgern nun, hatten das Primat der Politik über die Wirtschaft verspielt - sie hatten die Kontrolle verloren. Der europäische Traum der Gründerväter Jean Monnet, Robert Schuman oder Walter Hallstein ist in den Krisenjahren in Vergessenheit geraten und hat sich für nicht wenige Europäer zum europäischen Alptraum verkehrt.
Populisten auf dem Vormarsch
An Europas Rändern hatten Amerikaner und Briten 2003 mit ihrem Einmarsch im Irak einen Flächenbrand entzündet, der dann in Syrien metastasierte und immer weiter wucherte. Der Terror von Al-Kaida und seiner noch furchtbareren Reinkarnation, Daesh - dem Islamischen Staat - erreichte Europa. Die selbsternannten Dschihadisten begannen Angst, Verunsicherung, Misstrauen zu säen.
Demokratie und Freiheit litten in dieser Multi-Krise: Heute sind in Ungarn und Polen Regierungen an der Macht, die es mit Rechtsstaat und Demokratie nicht ganz so genau nehmen, Rechtspopulisten sind in Frankreich, Österreich, Deutschland und den Niederlanden auf dem Vormarsch. Nicht Europa, sondern die Vaterländer sollen nun schaffen, was Europa nicht vermochte: Stabilität, Sicherheit und Wirtschaftsaufschwung. Die EU-Phorie ist verflogen, der Nationalismus erlebt eine schaurige Renaissance.
Strauchelnde Staaten
Aber die Nationalstaaten sind ebenfalls nicht in besserer Verfassung als die Union: Frankreich, nach dem Brexit zweitstärkste Macht der EU nach Deutschland, hat mit einer Vielzahl von Problemen zu kämpfen, Wirtschaftsflaute, Streikwellen, Terror. Die Grande Nation ist derzeit alles andere als Grande. Griechenland kann weiterhin nur mit Finanzspritzen in der Währungsunion gehalten werden, Länder wie Italien oder Spanien leiden an anämischem Wachstum und ächzen unter dem Austeritätsdiktat. Bulgarien und Rumänien sind immer noch schwache Staaten, die politische Klasse ist korrupt, dabei bräuchten diese Länder dringend kompetente und energische Regierende.
Brexit. Stunde null
Dann kam der Sommer 2015, die Flüchtlings-Treks der Müden, Armen, die geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen - wie es am Sockel der im New Yorker Hafen stehenden Freiheitsstatue geschrieben steht -, zogen aus den von Terror und Krieg verheerten Gebieten in Syrien, dem Irak und Afghanistan nach Europa. Die europäischen Bürger entlang dieses Treks - von Griechenland bis Schweden - halfen, so gut sie konnten, erlebten aber zugleich den Zusammenbruch des Schengen-Systems und des Dublin-Asyl-Systems und die Ohnmacht der Regierenden.
Und dann? Dann kam der 23. Juni 2016, der Tag des EU-Referendums in Großbritannien. Für Dirk Kurbjuweit markiert dieser Tag so etwas wie eine "Stunde null" für Europa, wie er im aktuellen "Spiegel" schreibt. Die Idee einer "ever closer Union", einer immer engeren Union ist ausgeträumt, die realistische Rückzugsposition ist ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten, ein Europa konzentrischer Kreise. "Es ist jetzt möglich, kühl darauf zu schauen, wo Einheit nötig ist und wo nicht. Das bedeutet: Abschied von der Ideologie des Gleichschritts. Europa braucht noch immer eine große Zahl von Menschen, um im Konzert der Weltmächte ernst genommen zu werden. Aber es kann verschiedene Stufen der Einheit geben."
Ukips Werk, Camerons Beitrag
Wie konnte der Brexit geschehen? Die Hauptverantwortung trägt wohl Premier David Cameron, der als schlimmster Hasardeur und inkompetentester Premierminister Großbritanniens seit dem Zerfall des Britischen Empire in die Geschichtsbücher eingehen wird. Er hat mit seinem unbeholfenen Versuch, die konservative Partei mithilfe eines EU-Referendums zu einen, nicht nur Europa für Großbritannien verspielt, sondern seinem Land möglicherweise den Austritt Schottlands aus dem Vereinigten Königreich im Gefolge des Brexit beschert.
Oberzyniker Boris Johnson, der konservative Ex-Bürgermeister von London, der nun gerne als Premierminister in die Downing Street 10 einziehen würde, hat, wie auf der Social-Media-Plattform Twitter geätzt wurde, mit seiner Unterstützung für den Brexit hunderttausende Jobs geopfert, um für sich einen neuen zu schaffen. Für Nigel Farage, Chef der rechtspopulistischen UK Independence Party, war der Tag der Abstimmung ein Jubeltag: Der frühere Investmentbanker sprach vom Sieg der "echten Leute, der gewöhnlichen Leute, der anständigen Leute", so als wären jene, die für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt haben (immerhin 48 Prozent), unecht, abgehoben und unanständig. Farage dominierte, nachdem die Bürger das Ergebnis des Urnengangs erfahren hatten, die Fernsehschirme. Die Briten müssen gedacht haben, Farage sei der neue Premier - er, der mit Lügen, Unwahrheiten und Hetze von Anfang an Stimmungsmache betrieben hatte - bis nach mehreren Schreckstunden endlich die vergleichsweise seriöseren Vertreter der EU-Austrittskampagne zu sehen und zu hören waren.
Eine Insel vor Europa?
Das Verhältnis der Briten zur EU (und dem Vorgänger EG) war nie besonders herzlich: Der Eintritt in die Union war in den frühen 70er Jahren eine Antwort auf den Niedergang des Landes nach dem Zerfall des Empire. "Die Beziehungen waren transaktional und mehr vom wirtschaftlichen Wohlergehen des Kontinents abhängig. "Großbritannien war - um es etwas unfreundlich zu sagen - ein Schönwetterfreund", schreibt der britische Historiker Timothy Garton Ash am Tag nach dem Referendum im britischen "Guardian".
Die britische Boulevardpresse ist offen EU-feindlich, die Euroskeptiker machten dem Wahlvolk weis, Großbritannien sei einmal ein Imperium gewesen und von den Ketten Brüssels befreit, könne die Inselnation wieder zu alter Größe zurückfinden. Die Brexiteers haben den Wählern weisgemacht, mit einem Kreuz an der richtigen Stelle können sie Globalisierung, Osterweiterung, Migration und fortschreitende soziale Ungleichheit abwählen und den kosmopolitischen Eliten in den Städten einen Denkzettel verpassen. Das Brexit-Versprechen lautet: "Wir holen unser Land zurück." Dieser Satz kommt auch aus dem Mund von Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in Holland, Frauke Petry in Deutschland oder Norbert Hofer und Heinz-Christian Strache in Österreich. Die Rechtspopulisten und Rechtsradikalen feiern ihren "patriotischen Frühling".
Der verlorene Traum
"Jeder Krise wohnt ein Zauber inne: Sie bietet die Chance zu einem Reset, zu einer Neuvermessung der Gegenwart. Europas Zukunft wird sich im Kampf zwischen Europa-Architekten und Nationalstaats-Orthodoxen entscheiden", war 2014 vor der Wahl zum Europaparlament im "Wiener Journal" der "Wiener Zeitung" zu lesen: Zwei Jahre später sieht es so aus, als würden die Nationalstaats-Orthodoxen die Oberhand behalten, wenn Europa nicht endlich erwacht. Der Kontinent wird diesem patriotischen Frühling eine neue europäische Utopie, einen neuen europäischen Traum entgegenstellen müssen, sonst ist der Kontinent verloren.