Letztendlich haben die britischen Wähler aufgegeben, an die Reformfähigkeit der EU zu glauben. Neue Spielregeln sind notwendig.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die Brexit-Piloten steigen ins Flugzeug ohne zu wissen, wo die Kontrolltasten sind, ohne Flugplan, Strecke oder Information über die Wetterlage. Sie jubeln, und Großbritannien wird eines Tages einen neuen Feiertag haben: den 23 Juni, der Tag der "Unabhängigkeit."
Das Verbleib-Lager steht unter Schock und hat das Gefühl, dass Großbritannien am Tag danach irgendwie anders geworden ist. Doch das ist ein Irrtum. Wie EU-Ratspräsident Donald Tusk gesagt hat, teilen viele Bürger den EU-Enthusiasmus der Eliten nicht. Die Stimmen vieler wurden nicht gehört, und die einzige Möglichkeit war, diese Stimmen auf andere Art und Weise abzugeben.
Das Ergebnis ist eine demokratische Entscheidung, die zu respektieren ist, gefällt von Leuten, die fast die Hoffnung aufgeben haben in einem demokratischen System, mit dem sie nichts anfangen können. Wir wissen nicht, wo die Reise jetzt enden wird, aber eines steht fest: Jene, die sich marginalisiert gefühlt haben, werden die ersten sein, die unter der neuen Situation leiden werden.
Ein Sparpaket wird dem Parlament vorgelegt, das ohnehin viele Konservative wollten. Jetzt haben sie einen Anlass und können es mit einem drohenden Wirtschaftskollaps begründen. Der Ersatzsündenbock für Chaos oder Schwierigkeiten bleibt die EU. Die Migration wird nicht zurückgehen, mehr Krankenhäuser werden nicht gebaut, und die Verzweiflung könnte noch wachsen.
Jahrelang, vielleicht jahrzehntelang hat die EU die Sorgen der Briten unterschätzt. EU-Politiker beschweren sich nur über die Rosinen und Extrawürste für Großbritannien. Doch darum ist es nicht gegangen. Zunehmend wollte Großbritannien eine Flexibilität und eine echte Reform der EU anstreben. Das Budget, die Agrarpolitik, das Demokratiedefizit lagen nie ernsthaft auf dem Verhandlungstisch. Zu groß waren die konservativen Kräfte in der EU, die das für unrealistisch hielten. Die Grundsätze der EU galten und gelten als nicht reformfähig. Labour, Gewerkschaften und Tories wollten mehr Kontrolle über die Zuwanderung, die innerhalb der EU einfach nicht möglich ist.
Letztendlich haben die Wähler aufgegeben, an die Reformfähigkeit der EU zu glauben. Sie haben an nichts mehr geglaubt. Allen Warnungen von Kanada bis China, von Experten, Künstlern und Eliten zum Trotz. Alle waren suspekt als potenzielle Nutznießer der angeblich fetten EU-Subventionen. Die Labour-Führung hat bei der Mobilisierung der Genossen versagt, sie wurde auch als Teil des Establishments gesehen. Wir sind nicht nur mit einer wirtschaftlichen Krise konfrontiert, sondern auch mit einem Vertrauensverlust in unser demokratisches System.
Einige Tage vor dem Referendum hatte man den Eindruck, dass vielleicht die EU-Führung endlich verstanden habe, dass Feuer am Dach war. Es gab einige Zeichen, dass ein Votum für einen Verbleib nicht als ein Auftrag verstanden würde, so weiterzumachen wie bisher. Aber es war zu spät. Der Glaube war nicht mehr da.
Soll man künftig solche Themen von einer Volkswahl ausschließen? Wir haben viel zu lernen von diesem Referendum. Bloß alle fünf Jahre Wahlen abzuhalten, ist nicht genug in einer modernen Demokratie. Aber ab und zu ein Referendum ist auch unzureichend. Neue Spielregeln für Referenda sind notwendig. Wie kann ein Bürger mit einer Welle von Informationen und widersprüchliche Statistik umgehen? Es sollte möglich sein, Politikern, die im Wahlkampf wissentlich Fakten ignorieren, die rote Karte zu zeigen, und es mehr Möglichkeiten für Bürger geben, sich zu engagieren. Aber jetzt müssen wir uns erst einmal fest anschnallen. Turbulente Tage liegen vor uns.