Unter den Zuzüglern in Großbritannien macht sich ein mulmiges Gefühl breit. Die Rumänen, Polen und Bulgaren auf der Insel wissen nach dem Brexit-Referendum nicht, wie lange sie noch bleiben können. Ein Massenexodus hätte unabsehbare Folgen.
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London/Warschau. Am Tag des Referendums verklebte Cristian Constantinescu die Fenster seines kleinen Hauses in Cambridge mit Plakaten, auf denen er seine britischen Nachbarn aufrief, für den Verbleib des Landes in der EU zu stimmen. "Meine Frau und ich dürfen nicht wählen, obwohl wir seit 13 Jahren hier leben und hunderttausende Pfund an Steuern gezahlt haben. Bitte wählt für uns", schrieb der 37-jährige in Bukarest geborene Dozent.
Am nächsten Morgen wachte Familie Constantinescu in einem anderen Land auf. Zwar hatten manche Nachbarn handgeschriebene Nachrichten hinterlassen, in denen sie sich für das Ergebnis entschuldigten. Es war aber bereits zu spät. Die Bauarbeiter, die am Haus nebenan werkelten, freuten sich schon über den Sieg des Brexit-Lagers, und natürlich darauf, dass sie vielleicht schon bald die osteuropäische Konkurrenz loswerden können. "Sollten wir jetzt auch die Moschee anzünden oder warten wir noch ab?", brüllte einer, als er um sieben auf der Baustelle ankam.
Bis vor kurzem hatte Constantinescu nie ernsthaft darüber nachgedacht, einen britischen Pass zu beantragen. Denn als rumänische Staatsbürger hatten die Familienangehörigen ja genau die gleichen Rechte wie die Briten gehabt. Doch mittlerweile kaufen die Constantinescus nicht einmal mehr Bücher in Großbritannien ein, weil sie sich nicht mehr sicher sind, dass sie hier dauerhaft bleiben werden können.
Seit fünf Tagen herrscht unter den zahlreichen Rumänen, Polen oder Ungarn, die im Königreich leben und arbeiten, dieses mulmigen Gefühl. Neben den schon berühmten polnischen Installateuren handelt es sich etwa um bulgarische Ärztinnen und Krankenschwestern oder eben um rumänische Akademiker. In den zähen und bitteren Austrittsverhandlungen, die sich abzeichnen, steht ihr Schicksal auf dem Spiel. Und Leitartikler in Bukarest, Warschau oder Budapest warnen sogar vor der Gefahr, dass London diese Bevölkerungsgruppen "als Geisel" nehmen könnte, um bessere Konditionen zu erzielen. Zwar versicherte der führende Brexit-Anhänger Boris Johnson Anfang der Woche, dass die EU-Staatsbürger, die bereits im Königreich leben, dort weiter ungestört bleiben können. Doch nach einem Wahlkampf, in dem er versprach, vor allem die Einwanderung aus anderen EU-Staaten zu stoppen oder sogar rückgängig zu machen, zweifeln viele der Zuzügler aus Osteuropa an der Glaubwürdigkeit solcher Aussagen.
Eine gefährliche Spirale
Ein Ende der bisher gültigen Freizügigkeit würde nicht nur ein brutales Ende von Karrieren und persönlichen Lebensplänen bedeuten. Auch die negativen Folgen auf die osteuropäischen Volkswirtschaften wären massiv. Zum einen tragen die Überweisungen der Diaspora an die zuhause verbliebenen Angehörigen entscheidend dazu bei, dass die Zahlungsbilanzen der Herkunftsstaaten relativ ausgeglichen sind. Bereits jetzt gefährdet die Entwertung des Pfund indirekt auch die makroökonomische Stabilität Ungarns und Polens. Ein Ausfall der Überweisungen aus Großbritannien käme einem Einbruch der Exporte oder der ausländischen Investitionen gleich und könnte bald zu einer Kettenreaktion aus Herabstufungen durch Ratingagenturen, Verteuerung des Schuldendienstes, Sparmaßnahmen und Rezession führen. Ein ähnliches Szenario spielte sich schon einmal zwischen 2008 und 2010 ab, als die amerikanischen und westeuropäischen Unsicherheiten zunächst eine Kapitalflucht aus der osteuropäischen Peripherie verursachten, bevor auch der Süden betroffen war.
Die Zentralbanken in Warschau, Budapest und Bukarest verfügen zwar über einen gewissen Spielraum, weil sie die eigenen Währungen entwerten können, um die Wirtschaft anzukurbeln, doch angesichts der bereits sehr niedrigen Leitzinsen, sowie der begrenzten Reserven mittlerer oder kleiner Volkswirtschaften bleibt die Lage für Spekulationen und Schocks anfälliger als im Euroraum.
Versiegende Fördertöpfe
Hinzu kommt, dass mit Großbritannien der zweitgrößte EU-Nettozahler wegfällt, was die Fördertöpfe, aus denen sich viele Investitionsprojekte in Osteuropa finanzieren, massiv reduzieren wird, falls sich London und Brüssel nicht auf ein norwegisches oder schweizerisches Beziehungsmodell einigen können. Doch gerade eine solche Einigung, die eine Fortsetzung der britischen Geldtransfers in die EU bedeuten würde, dürfte den Brexit-Anhängern vor dem Hintergrund der Wahlkampfrhetorik nur schwer schmackhaft gemacht werden.
Entsprechend vorsichtig und ungewohnt moderat zeigen sich osteuropäische Politiker, die bis vor kurzem als europaskeptisch galten. Ungarns Premierminister Viktor Orban schaltete vor dem Referendum in der britischen Presse Werbung für den Verbleib Großbritanniens. Sein polnischer Freund, der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski, deutete am Wochenende an, die Abstimmung könne als unverbindlich betrachtet werden. Wer gegen die EU sei, sei auch gegen Polen, so der neue Tenor.
Mit Großbritannien verlieren Populisten wie Orban oder Kaczynski zudem einen wichtigen politischen Verbündeten, der sich stets mit allem Einsatz gegen eine Vertiefung der europäischen Integration gesperrt hat. Ob die Angst vor desaströsen Folgen zu einer dauerhaften Mäßigung der nationalistischen Diskurse in Warschau und in Budapest führen wird, werden zwar erst die nächsten Wochen zeigen. Im Moment herrscht in vielen osteuropäischen Hauptstädten aber Katerstimmung.