Sowohl der Verbleib in der EU als auch der Austritt bergen viele Ungewissheiten für Großbritannien und die EU.
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Anti-Establishment Frust auf "die da oben" hat die erste Runde der österreichischen Bundespräsidentenwahl gekennzeichnet und überschattet auch das kommende EU-Referendum in Großbritannien. Da Premier David Cameron, die zwei größten Oppositionsparteien, die schottische Regierung, der Internationale Währungsfonds, die EU, US-Präsident Barack Obama und Großindustrie alle für einen Verbleib Großbritanniens in der EU sind, besteht die Gefahr, dass das Referendum eine Art klassischer Kampf David gegen Goliath werden wird.
Cameron betont immer wieder, dass er im Fall eines Brexits nicht zurücktreten wird, um vielleicht zu vermeiden, dass Wähler für den Austritt stimmen, um ihn als Premier loszuwerden. Kampagne und Abstimmung aber werden zwangsläufig viel mit einer Obmanndebatte in der Tory-Partei zu tun haben. Seit die Enthüllungen durch die Panama Papers ihn in ein schiefes Licht brachten, wissen die meisten, dass er privilegiert ist. Sein Hauptfehler lag darin, dass er nicht von Anfang an reinen Tisch machte.
Sollten die Wähler sich tatsächlich für den Austritt aus der EU entscheiden, hängt viel von der Größe der Mehrheit ab. Großbritannien muss zuerst Brüssel darüber informieren, ehe entsprechende Verhandlungen beginnen können. Das könnte erst Ende des Jahres erfolgen. Der EU-Vertrag wirft viele rechtliche Fragen auf - mit diversen Auslegungen. Ob ein Land vom Austritt zurücktreten könnte, ist unklar. Ein Team für die Austrittsverhandlungen muss vereinbart werden, und es wäre seltsam, wenn dabei diejenigen, die gegen den Brexit waren, das Sagen hätten.
Was würde aus der für 2017 geplanten britischen EU-Präsidentschaft? Und sollten die in Großbritannien gewählten Mitglieder des EU-Parlaments bei Gesetzen, die das Land künftig nicht mehr betreffen werden, stimmberechtigt sein? Großbritannien bliebe für mindestens zwei Jahre ein vollwertiges EU-Mitglied, könnte jedoch keine Veranlassung sehen, die EU-Gesetzgebung zu befolgen. Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes über einen möglichen Vertragsbruch kann lange dauern.
Und kommt ein zweites Referendum über die schottische Unabhängigkeit? Die Genehmigung dafür aber muss London geben. Mit langwierigen Austrittsverhandlungen mit Brüssel würde eine zweite Front der Ungewissheit keine Begeisterung auslösen. Die Schotten könnten mit einem Referendum fortfahren, dem es an Legitimität mangeln würde, wie in Katalonien.
Eine Abstimmung für einen Verbleib in der EU ist jedoch kein Votum für den Status quo. Die EU verändert sich zwar schnell, aber die Richtung ist unklar. Die Beziehung zur Türkei ist verwirrend und die Zukunft des Euro unklar. Flüchtlinge könnten in den kommenden Jahren EU-Bürger werden, mit dem Recht, sich innerhalb der EU frei zu bewegen, was manche Briten verunsichert.
Experten sagen entweder Chaos oder eine schönere Welt voraus, aber die Wähler schenken den meisten Prognosen kein Vertrauen. Solche Spezialisten sahen die Finanzkrise im Jahr 2008 nicht kommen. Sowohl der Verbleib in der EU als auch der Austritt bergen viele Ungewissheiten für Großbritannien und die EU.