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Viel wurde über die negativen Konsequenzen des EU-Austritts für Großbritannien geschrieben: Die Abwertung des Pfundes ist bereits spürbar, eine Abwanderung der Finanzindustrie oder ein eingeschränkter Zugang zum EU-Binnenmarkt könnten demnach katastrophale Auswirkungen haben. Demgegenüber halten Brexit-Befürworter an einem positiven Szenario fest: So hat der prominente Tory David Davis gerade seine Brexit-Argumente erneut untermauert. Eine genauere Diskussion der von ihm vorgebrachten Punkte scheint aufgrund seiner Ernennung zum verantwortlichen Minister für die EU-Austrittsverhandlungen angezeigt.
Erstens, behauptet Davis, wäre es zunehmend schwierig, die EU auf eine Freihandelspolitik zu verpflichten. Großbritannien allein wäre in seiner Gestaltung von Freihandelsabkommen wesentlich flexibler. Die derzeitige Diskussion um TTIP zeigt, dass diese Annahme nicht von der Hand zu weisen ist. Der aktuelle politische Trend in der EU ist zweifelsohne alles andere als günstig für den Freihandel, der eher als Bedrohung denn als Chance gilt. Eine Änderung dieses Trends ist nicht absehbar und strukturell auch nicht zu erwarten. Die Einschätzung, dass sich kleinere Einheiten mit einer klaren handelspolitischen Ausrichtung im globalen Wettbewerb auf lange Sicht gegenüber unflexiblen Akteuren wie der EU im Vorteil befänden, könnte sich somit als stichhaltig erweisen.
Zweitens, so Davis, würden durch den Brexit Steuersenkungen möglich, die wiederum zu Wirtschaftswachstum und verstärkter Innovationskraft führten. Dieses Argument ist differenziert zu betrachten. Um Steuersenkungen wettbewerbstechnisch tatsächlich zur Wirkung zu bringen, müssen sie mit Standortattraktivität sowie Effizienzsteigerungen und Ausgabensenkungen im öffentlichen Sektor einhergehen - eine Wirksamkeit per se gibt es nicht. Im Bereich der Innovation wird Davis’ Annahme jedenfalls von empirischen Daten bestätigt: Gemäß dem Global Innovation Index geraten europäische Staaten gegenüber anderen Weltregionen zunehmend ins Hintertreffen, wobei als innovativste Staaten in Europa pikanterweise die Schweiz und Großbritannien gelistet sind. Durchaus repräsentativ für das Brexit-Lager führt Davis weiter aus, dass die starke EU-Binnenmigration zu aufgeblasenen Wachstumszahlen geführt habe, wobei dieses Wachstum durch den migrationsbedingten Verdrängungswettbewerb um Niedriglohn-Jobs nicht inklusiv gewesen sei.
Dies ist aus drei Gründen nicht nachvollziehbar: Erstens ist eines der Kernprobleme in diesem Segment die mitunter extrem schlechte Ausbildungssituation der britischen Arbeitskräfte selbst. Daran wird auch eine Reduzierung der Zuwanderung kaum etwas ändern. Zweitens arbeitet ein substanzieller Teil der EU-Immigraten keineswegs im Niedriglohnsektor. Die durch die Migration ausgelösten ökonomischen Effekte sind vielmehr komplex und regional divers. Und drittens ist die hier angestellte Migrationsrechnung an sich falsch.
Übereinstimmend schätzen alle Studien, dass die Brexit-induzierte Reduzierung der Nettomigration weit unterhalb der während der Kampagne diskutierten Zahlen liegen wird, selbst bei einer vollständigen Abschaffung der Personenfreizügigkeit, die dann ja auch eine signifikante Zahl von britischen Staatsbürgern an einer Emigration in die EU hindert. Zudem kommt die Mehrzahl der Zuwanderer nach Großbritannien nicht aus der EU und ist von derartigen Maßnahmen daher auch nicht umfasst.
Nachgerade absurd ist letztlich die in der britischen Arbeiterschicht überaus populäre und von Davis wiedergekäute Idee, eine durch den EU-Austritt ermöglichte Entregulierung von Umwelt- und sonstigen Auflagen würde darniederliegende Industriezweige zu neuer Blüte führen. Solche Behauptungen sind derart bar jeder Sachkenntnis, dass einem ökonomisch liberal gesinnten Politiker wie Davis unterstellt werden muss, sie wider besseres Wissen zu tätigen. Zudem zeichnen diese Ideen den Weg in die Subventionierung unproduktiver Industrien vor. Dies wiederum hieße, alle potenziellen Vorteile des Brexit - die Freihandelsoption und die Möglichkeit zu Steuersenkungen - zu verschenken.
Davis’ Aussagen zeigen also ein mitunter offen widersprüchliches Sammelsurium liberaler, sozialkonservativer und sozialistischer Elemente, wie es für die Brexit-Kampagne typisch war. Den Abstimmungsausgang haben jedoch vor allem letztere Punkte beeinflusst - die Migrationseindämmung und die sozialromantische Hoffnung auf eine protektionistisch geprägte industrielle Wiederauferstehung.
Bei nüchterner Betrachtung sind es aber genau diese Ideen, die langfristig einer positiven Verarbeitung des Brexit auf britischer Seite entgegenstehen. Auf den Punkt gebracht hat also ein Großteil der EU-Gegner aus den "falschen" Gründen für den Austritt gestimmt. Dies stellt das Kabinett May vor Herausforderungen, die durch kurzfristige Nachteile im Verlauf der mit dem Austrittsprozess einhergehenden ökonomischen Transformation verschärft werden. Eine solche Situation verführt zu langfristig negativ wirkenden politischen Entscheiden.
Entgegen zahlreichen Meinungen ist sehr wohl davon auszugehen, dass der Brexit den Gestaltungsraum für die britische Politik markant erhöht - angesichts solcher Rahmenbedingungen ist dies jedoch ein zweischneidiges Schwert. Genauso wie die im Abstimmungskampf oft erwähnte "zurückgewonnene Kontrolle" zu einem Schub in Richtung Liberalisierung und Freihandel führen kann, ist auch eine Politik des Protektionismus, der Subventionen und der Abgeschlossenheit möglich.
Eine Vermeidung dieser Richtungsentscheidung, wie sie von Protagonisten der "mitfühlenden Konservativen" wie Michael Gove vertreten wird, hätte langfristig fatale Konsequenzen. Das Scheitern von Personen wie Gove, die Entscheidung der Tories für Theresa May und ein Kabinett mit Personen wie David Davis können vorsichtig optimistisch stimmen. Sie können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die notwendige Richtungsentscheidung, die sich schon im Zuge der Artikel-50-Verhandlungen mit der EU abzeichnen muss, noch aussteht.
Angesichts der Tatsache, dass mit einer liberalen Politik auch in Großbritannien keine Mehrheiten zu gewinnen sind, werden starke Leadership-Qualitäten notwendig sein, um die Bevölkerung auf diesem Weg mitzunehmen. Nur wenn sich Großbritannien im Zuge der Verhandlungen um seinen zukünftigen Status als flexibler, ökonomisch offener, globaler Akteur positionieren kann, ist es denkbar, dass sich der Brexit in eine Erfolgsgeschichte verwandeln lässt.
Jan Pospisil ist Research Fellow an der University of Edinburgh Law School und derzeit karenzierter Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip).