Die Gefahr eines No-Deal-Brexit ist um zwei Wochen verschoben. Um ihn zu verhindern, muss das britische Unterhaus sich dem Willen der Premierministerin beugen - oder einen mehrheitsfähigen Plan B finden.
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Brüssel/London. Schön war die Rückkehr nach London für Theresa May wohl nicht. Ihre konservativen Tories, das britische Unterhaus, sämtliche Medien - sie alle kommentierten die Gnadenfrist, die Brüssel der Premierministerin mitgegeben hatte, am Freitag äußerst scharf. "Eine letzte Chance", titelte die rechtsliberale "Times". May stehe vor dem "nationalen Notstand", sie spiele "russisches Roulette mit Großbritannien", schrieb die "Financial Times". Und der linke "Guardian" monierte, dass "die EU die Kontrolle über das Brexit-Datum übernommen" habe.
Am Abend zuvor war es May nicht gelungen, den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten klarzumachen, wie sie ihren Brexit-Deal doch noch durchs britische Unterhaus bringen will. Die EU-Länder nahmen die Sache selbst in die Hand - und entschieden, den Brexit um zwei Wochen zu verschieben. Eigentlich wollte May eine Vertagung bis Ende Juni, doch das war den anderen Staats- und Regierungschefs zu riskant. Der Brexit soll nun auf den 22. Mai verschoben werden, falls das britische Parlament kommende Woche für Mays Austrittsabkommen stimmt. Das Vereinigte Königreich wäre dann bei den Europawahlen am 23. Mai nicht mehr EU-Mitglied, bliebe aber noch bis Ende 2020 Mitglied in Binnenmarkt und Zollunion.
Abstimmung kommende Woche
Lehnen die Abgeordneten Mays Deal ab, muss London bis zum 12. April einen neuen Vorschlag auf den Tisch legen - oder das Vereinigte Königreich schlittert ohne Abkommen aus der EU. Bis dahin liegen alle Optionen auf dem Tisch, sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk am Freitag in Brüssel: "Die britische Regierung hat die Wahl zwischen einem Deal, keinem Deal, einer langfristigen Verlängerung und einer Rücknahme des Austrittsantrags."
Bis zum 12. April muss Großbritannien vor allem mitteilen, ob es an den Europawahlen Ende Mai teilnehmen will. Bei einer Verlängerung über den Wahltermin hinaus müssten die Briten mitstimmen, weil sonst alle Entscheidungen der EU anfechtbar wären. Brüssel will verhindern, dass das Brexit-Chaos in London die Europawahlen gefährdet.
Nun liegt der Ball bei London. Am Dienstag oder Mittwoch soll das Unterhaus ein drittes Mal über den Brexit-Deal abstimmen. Dass May ihn durchs Parlament bringt, glaubt allerdings kaum jemand. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schätzt die Chancen auf fünf Prozent, Angela Merkel gibt sich optimistischer. Die deutsche Kanzlerin sprach von einer "sehr ehrlichen, wichtigen Diskussion". Man wolle May in ihrem Anliegen unterstützen. Laut "Financial Times" hatte sich vor allem Merkel für einen Kompromiss zum Brexit-Aufschub eingesetzt. Mit Macron habe sie beinahe gestritten, weil er den Briten keine Verschiebung zugestehen wollte, sollte May keinen guten Plan vorlegen. Mit dem Argument, dass die EU keinen chaotischen Bruch mit Großbritannien zulassen könne, habe sich die Kanzlerin schließlich durchgesetzt.
Mit dem Kompromiss kann May kurz durchatmen - und den Ball ans Parlament in London weiterspielen. Doch die Abgeordneten zeigen sich wenig begeistert davon, dass der einzige Ausweg aus einem No-Deal-Brexit darin liegt, das ungeliebte Austrittsabkommen durchzuwinken. "Wir haben bereits eine Entscheidung getroffen", sagte der Schattenminister für den Brexit, Matthew Pennycook, "und den Deal zwei Mal mit historischer Mehrheit abgelehnt." Die ganze Misere liege an Mays Unnachgiebigkeit und an ihrer Anbiederung an konservative Brexit-Hardliner.
Oppositionelle wie Pennycook, aber auch die Pro-Europäer unter den Tories, wollen mögliche Mehrheiten zu alternativen Brexit-Lösungen ausloten. Immerhin hat die Regierung nun angedeutet, dem Unterhaus kommende Woche Probeabstimmungen darüber zu erlauben, falls Mays Deal ein drittes Mal abgeschmettert wird. Die Vorschläge reichen vom Labour-Vorschlag, dauerhaft in der Zollunion der EU zu bleiben, über ein zweites Referendum bis hin zum Rückzug vom Brexit. Allerdings zeichnet sich für diese Ideen ebenso wenig eine Mehrheit ab wie für Mays Deal. Für ein Referendum wirbt die Kampagne "People’s Vote". Für Samstagmittag war eine Großdemonstration angekündigt, die Veranstalter erwarteten bis zu 700.000 Teilnehmer.
Doch von alldem will May nichts wissen. Für sie heißt es immer noch "mein Deal oder kein Deal". Eine dritte Abstimmung darüber scheiterte, nachdem Parlamentspräsident John Bercow ein weiteres Votum über denselben Austrittsvertrag untersagt hatte. Damit May dem Parlament ihr Abkommen noch einmal vorlegen kann, billigte die EU nun nochmals formal Zusagen, die EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereits Mitte März gemacht hatte. Es ist anzunehmen, dass diese rechtliche Aufwertung ausreicht, um eine erneute Abstimmung zu rechtfertigen.
"Viel Platz in der Hölle"
Während der Streit in London am Freitag weiterging, wirkten die EU-Spitzenpolitiker in Brüssel nach dem Sitzungsmarathon von Donnerstagnacht geradezu erleichtert. Bei der Pressekonferenz danach wirkten sie zwar müde, waren aber zu Scherzen aufgelegt. Bis wann eine langfristige Verschiebung denkbar sei, fragte ein Journalist bei der Pressekonferenz. Juncker erstarrte, Sekunden vergingen, auch Tusk fiel keine Antwort ein. "Bis ganz zum Schluss", meinte Juncker schließlich. In Anspielung auf seinen berühmten Satz, für die Brexiteers sei ein "besonder Platz in der Hölle" reserviert", wurde Tusk gefragt, ob die Hölle vergrößert werden müsse, sollte das Unterhaus Mays Deal noch einmal ablehnen. "Der Papst meint, die Hölle ist leer", sagte der Ratschef. "Es gibt dort also noch viel Platz."