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Brexit-Schadensbegrenzung war nie "der Sinn der Übung"

Von Martyna Czarnowska

Wirtschaft
Die Zeit wird denkbar knapp, das weiß auch die britische Regierung und teilt es auf Plakaten mit. Bis Jahresende müsste ein Handelsabkommen mit der EU ratifiziert sein.
© Reuters/Toby Melville

In den Gesprächen um einen Handelspakt zwischen der EU und Großbritannien geriet die Wirtschaft in den Hintergrund. Souveränität war das große Thema der Briten.


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Die Pizza schaffte es auch in die Medien. Von den spätabendlichen Essenslieferungen berichteten zunächst die Mitglieder der Verhandlungsteams und danach Presseagenturen. Für die Gespräche zwischen der EU und Großbritannien rund um ein künftiges Handelsabkommen wurde das als gutes Signal gewertet. Immerhin sprechen die beiden Seiten noch miteinander, hieß es, als sich die Beratungen ins Wochenende hineinzogen. Zuvor war von einem möglichen nahen Durchbruch die Rede und von einem drohenden Abbruch, von Annäherung und von weiterer Entfremdung.

In der Endphase der Gespräche über den Handelspakt, der noch bis Jahresende ratifiziert werden müsste, um die Beziehungen zwischen den Partnern nicht ungeregelt zu lassen, wurde hoch gepokert. Und in den Verhandlungen der vergangenen Monate ist viel Porzellan zerschlagen worden. Eine Frist nach der anderen ist verstrichen, eine Verlängerung der Übergangsphase hat der britische Premier Boris Johnson aber abgelehnt. Seine Unberechenbarkeit hat die Geduld der EU-Partner überhaupt auf eine harte Geduldsprobe gestellt. Zum Schluss schienen die zwei Seiten bei den wenigen noch verbliebenen Knackpunkten auf Kollisionskurs zu gehen: Ausweichen wollte keine.

Dabei gäbe es auch abseits der Handelsbeziehungen noch einiges im künftigen Verhältnis zwischen der Insel und dem Kontinent zu regeln. Ob Studentenaustausch, Verteidigungs- und Außenpolitik oder Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung - wie all dies ab dem kommenden Jahr ablaufen soll, ist noch offen.

Zum Beispiel werden britische Studierende nicht mehr automatisch auf einer Universität in Frankreich oder Italien inskribieren können. Auch wird Großbritannien ab 2021 keinen oder keinen vollständigen Zugang mehr zu EU-Datenbanken haben, angefangen vom Schengen-Informationssystem zu Grenzkontrollen bis hin zu Europol-Daten. Aber auch der Austausch weiterer Angaben könnte sich schwierig gestalten, etwa Kunden- oder Angestelltendaten, wenn die Unternehmen ihre Abteilungen sowohl im Königreich als auch in der EU haben. Andererseits: Auch als EU-Mitglied war Großbritannien bei der justiziellen Zusammenarbeit wegen einer Ausnahmeregelung nur wenig eingebunden.

Loslösung um jeden Preis

Dennoch werden London und Brüssel in etlichen Bereichen durchaus ein Interesse an einer Zusammenarbeit haben. Das könnte sowohl im Kampf gegen den Terror als auch beim Klimaschutz der Fall sein, wo die Westeuropäer Vorreiter sein möchten.

Einfach wird sich die Kooperation aber wohl nicht gestalten. Denn einer der wichtigsten Beweggründe für den EU-Austritt war eben - die Loslösung von der Europäischen Union und deren Vorgaben. Die Brexit-Befürworter wollten nun einmal nicht, dass ihr Land Teil der Fiskalunion ist oder des Schengenraums wird, sie wollten sich von keiner supranationalen Regulierungsbehörde bestimmte Standards oder Richtlinien auferlegen lassen. Sich die Kontrolle und Souveränität zurückholen: Das war der Schlachtruf der Brexiteers vor dem Austrittsreferendum.

Dieses Thema, das der Souveränität, hätten die Kontinentaleuropäer vielleicht unterschätzt, meint Fabian Zuleeg, Chefökonom der in Brüssel ansässigen Denkfabrik EPC (European Policy Centre). "Es besteht die Gefahr, dass sich in Johnsons Umfeld jene durchsetzen, die eine strikte Definition von Souveränität haben - und diese um jeden Preis umsetzen wollen", erklärte er bei einer Online-Diskussionsveranstaltung. Wenn diese Kräfte dominieren, dann werde das die Kooperation mit der EU in jedem Bereich erschweren.

Fischfang als Politikum

Doch gerade die Möglichkeit der Abweichung von EU-Standards war "der Sinn der Übung" beim Brexit, betont die Politologin Melanie Sully, die einen großen Mentalitätsunterschied bei der Bewertung des Austrittsprozesses ortet. "Für die EU war der Brexit wie ein Betriebsunfall, den die Briten schon noch bereuen würden", sagt die Leiterin des Instituts Go-Governance in Wien der "Wiener Zeitung". "Und in Großbritannien sahen viele den Brexit als eine Riesenchance, etwas Neues zu versuchen." Daher gehe es nun dort nicht um Schadensbegrenzung, wie es die EU gerne hätte, sondern um eine tatsächliche Veränderung. Das mache eine künftige Zusammenarbeit komplizierter: Konzessionen zugunsten eines Partners werden unwahrscheinlicher, wenn dieser ohnehin auf Distanz gehalten werden soll.

Dass dies nicht zuletzt für die Wirtschaft mit hohen Kosten verbunden sein kann, spielte in den Debatten auf der Insel kaum eine Rolle. "Der Brexit war immer ein politisches Projekt", stellt Sully klar.

Symbolhaft ist da der Streit um Fischereirechte, bis zuletzt einer der Knackpunkte in den Gesprächen zwischen London und Brüssel. Obwohl Fischfang für gerade einmal 0,03 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung steht, gab es ein heftiges Tauziehen um die Fangquoten, die für - nicht zuletzt französische - EU-Boote den Zugang zu britischen Gewässern regeln sollen. Doch geht es dabei eben nicht um Ökonomie: Der Fisch wurde vielmehr zum politischen Symbol.