Europas Politiker haben die Blockadehaltung der Briten satt.
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Brüssel. Die Einladung zu Robert Menasses Buchpräsentation verrät bereits alles: Reserviert ist Raum A5E-2 im labyrinthischen Gebäude des Europaparlaments, geladen haben in friedlicher Eintracht die EVP-Fraktion, S&D - Socialists and Democrats und The Greens, die Europäischen Grünen. Die Grün-Abgeordnete Ulrike Lunacek war es, die die fraktionsübergreifende Buchpräsentation organisiert hat, doch es hat überhaupt den Anschein, als verbinde die drei österreichischen Abgeordneten zum Europaparlament Lunacek, Jörg Leichtfried (SPÖ) und Othmar Karas (ÖVP) die gemeinsame Arbeit am europäischen Projekt mehr, als dass Fraktionsgegensätze sie trennen würden.
Dazu kommt, dass die drei in der Brüsseler Rangelei zwischen den Institutionen Rat, Kommission und Parlament im selben Boot sitzen: Das Selbstvertrauen der Europaparlamentarier ist seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 deutlich gewachsen, auch wenn der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs im Krisenmanagement der Eurokrise das Ruder weitgehend an sich gerissen hat.
Karas empfindet Menasses Buch als "Geschenk" an den Friedensnobelpreisträger Europäische Union: "Den Friedensnobelpreis haben wir nicht für etwas bekommen, was wir getan haben, sondern er ist ein Auftrag." Menasse spricht dann über die Notwendigkeit der Überwindung des Nationalstaats; sein Lob der Eurokraten ist Balsam auf die Wunden der geschundenen Eurokraten, auf deren Schultern das europäische Projekt ruht. Nicht nur eine Beamtin oder ein Beamter meldet sich während der Buchpräsentation zu Wort, um Menasse "aufrichtig" zu danken, dass einer - ein Dichter zumal - Europa preist und sich dem Klage- und Jammerchor der Euroskeptiker entgegenstellt. Grund zur EU-Phorie besteht in diesen Novembertagen freilich nicht im geringsten: Der SP-EU-Abgeordneter Jörg Leichtfried meint, "einer habe einmal gesagt, wenn Europa eines Tages untergeht, dann an der Eitelkeit der Staats- und Regierungschefs". Da sind sie wieder, die Eifersüchteleien zwischen den EU-Institutionen: Die Europa-Parlamentarier sind nicht gut auf die Mitglieder des Rats zu sprechen, die EU-Kommission ohnehin nicht.
Darum möchten Vordenker Europas wie der Grüne Daniel Cohn-Bendit die Verfassungsdiskussion neu andenken, sprechen mitten in der Krise von einem völligen Umbau der Institutionen, einem neuen Wahlmodus für das Europaparlament mit Spitzenkandidaten, die sich dann für Komissionsposten empfehlen und somit vom europäischen Elektorat - und nicht mehr länger von den Staats- und Regierungschef - inthronisiert werden. Spitzenkandidaten, die gleich in mehreren Ländern antreten, das schwebt Cohn-Bendit vor, den Rat sieht er in Zukunft als eine Art Senat, als zweite Kammer.
Europas Zukunft ohne Großbritannien?
Doch die europäischen Träume zerschellen im Moment an der Wirklichkeit, der EU-Haushalt steht auf der Kippe und die britischen Inseln driften immer weiter in den Nordatlantik, der Ärmelkanal wird Tag und Tag breiter - wenn auch nur psychologisch.
"Der britische Premier David Cameron manövriert das Vereinigte Königreich in eine Entscheidungssackgasse, er blockiert den EU-Haushalt, obwohl er gar nicht weiß, ob sein Land nach 2014 überhaupt noch EU-Mitglied sein will", sagt der Grüne EU-Phoriker, "Puerto Rico will 51. Bundesstaat der USA werden, Großbritannien wohl 52ster. Let’s go on, man", meint er. Let’s go on, man - das scheinen viele in Brüssel mittlerweile zu denken, Reisende soll man nicht aufhalten.
Der frühere belgische Premier Guy Verhofstadt und heutige Fraktionsvorsitzende der Liberalen hat die Geduld mit den Briten ebenfalls bereits verloren. Bei einem Mittagessen vergangene Woche sagte er, die EU habe nicht den Luxus zu zaudern: "In nicht allzu ferner Zukunft wird kein einziger europäischer Staat mehr im Klub der G8-Nationen der wirtschaftlich stärksten Länder sein. Die Zukunft wird von Imperien wie China, USA oder Indien bestimmt sein. Ohne EU sind die kleinen Einzelstaaten Europas verloren", meint Verhofstadt, "Großbritannien wird in Europa eben bald eine Rolle wie Norwegen oder die Türkei spielen."
Europa könne nicht alle Vorschläge und Reformpläne verwässern, nur weil die Briten den Weg Europas nicht mehr mitgehen wollen, "das ist nicht mehr länger möglich". Verhofstadt verweist auf historische Beispiele, wie es mit den Briten in Europa weitergehen könnte: 1787 bei der Convention von Philadelphia hätten auch nur 39 der 42 Abgeordneten für die Verfassung gestimmt, Rhode Island hat es gar nicht erst der Mühe wert gefunden, Abgeordnete zu schicken. Dennoch trat die Verfassung am 4. März 1789 in Kraft. Verhofstadt bringt - wie zuvor Cohn-Bendit - noch ein zweites Beispiel: Der Freistaat Bayern hat dem deutschen Grundgesetz nie ausdrücklich zugestimmt, bei der Abstimmung im Bayerischen Landtag am 20. Mai 1949 waren 63 Abgeordnete für die Annahme des Grundgesetzes, 101 dagegen und 9 enthielten sich. Für die Gültigkeit des Grundgesetzes war das freilich nicht von Belang, denn da hätte die Zustimmung von zwei Dritteln der Volksvertretungen der deutschen Länder genügt - es stimmten aber alle anderen Länder (außer Bayern) für die Annahme.
Genau in die von Verhofstadt und Cohn-Bendit angedeutete Richtung scheint es nun zu gehen. Wie die "Financial Times" am Montag berichtete, machen sich EU-Beamte daran, das EU-Budget ohne die Mitwirkung der Briten zu planen. Die Zeit drängt: Niemand in Brüssel glaubt, dass bis zum Gipfel der Staats- und Regierungschefs am kommenden Donnerstag eine gemeinsame Linie zur Zukunft der europäischen Haushaltsplanung gefunden werden kann. Ob die in der "Financial Times" lancierten Pläne mehr sind als eine Verhandlungstaktik, mit der man den britischen Premier unter Druck setzen will, weiß niemand. Denn ein solcher Schritt wäre rechtlich alles andere als ein triviales Problem.
Die zwei Probleme des David Cameron
Nick Clegg, europafreundlicher Parteichef der Liberalen und stellvertretender Premierminister, meinte erst unlängst zu den von Cameron in Aussicht gestellten Plänen, Entscheidungen von Brüssel nach London zurückzuholen: "Die Leute, die von Repatriierung sprechen, sind die gleichen, die am liebsten die EU ganz verlassen würden." Camerons zweites Problem ist Schottland: Sollte das Vereinigte Königreich die EU verlassen wollen, würde das die Sezessionsbestrebungen Schottlands beschleunigen: Denn die Schotten wollen in der EU bleiben - und liebäugeln sogar mit dem Euro.