Britische Politologin analysiert im Interview mit der "Wiener Zeitung" die Konsequenzen eines EU-Austritts Großbritanniens.
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Großbritanniens Premierminister David Cameron hat seine diplomatische Offensive für eine EU-Reform begonnen. Montagabend traf er mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zusammen. "Die Gespräche haben sich auf eine Reform der EU und eine Neuverhandlung der Beziehungen des Vereinigten Königreichs zu ihr konzentriert", hieß es von der britischen Regierung. Am Donnerstag und Freitag will Cameron eine Reihe von europäischen Hauptstädten besuchen, um weiter für eine EU-Reform zu werben, darunter Berlin, Paris und Warschau.
Während London mit dem Status quo der Beziehungen zu Brüssel nicht glücklich ist und sich gerne ein paar Kompetenzen zurückholen würde, fordern viele Briten einen Austritt aus der EU. Ein Referendum soll schon nächstes Jahr, spätestens jedoch 2017, für Klarheit sorgen. Die "Wiener Zeitung" sprach mit der britischen Politologin Melanie Sully über die heikle Situation.
"Wiener Zeitung":Königin Elizabeth II. wird am Mittwoch, ihre Thronrede halten. Wie wahrscheinlich ist es denn, dass sie darin auch den möglichen Austritt der Briten aus der EU, "Brexit", erwähnt?
Melanie Sully: Zuerst einmal muss man wissen, dass die Queen diese Rede nur vorliest. Geschrieben wird sie von Premierminister David Cameron und seiner Regierung. In der Vergangenheit hat Elizabeth II. schon Sachen vorgelesen, von denen man wusste, dass sie nicht unbedingt ihren Vorstellungen entsprachen - wie etwa die Reform des Oberhauses. Nun ist einer der Schwerpunkte der Regierung derzeit der Brexit und die Abschaffung des Menschenrechtsaktes in Großbritannien, der vor Jahren von der Labour-Regierung eingeführt wurde und die Europäische Menschenrechtskonvention beinhaltet.
In Großbritannien hat man, doch grundsätzlich Probleme mit Gerichtsbarkeit, die noch über der britischen steht?
Ja, genau das war auch für Cameron der springende Punkt. Mit der Abschaffung der Menschrechtsakte von 1998 wurde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über die Gerichte von Großbritannien gestellt. Es gibt allerdings einige Punkte, mit denen die Leute nicht einverstanden sind. Da wäre etwa das Wahlrecht für Häftlinge. Cameron hat dazu buchstäblich gesagt: "Nur über meine Leiche." Ein weiterer strittiger Punkt ist das in der Konvention verankerte Recht auf Familie und Ehe. Das hat Auswirkungen auf Ausländer, die im Land sind; EU-Migranten, die etwa nach Großbritannien kommen und dann sagen, sie brauchen jetzt auch ihre Familie hier. Es gibt da zwei unterschiedliche Konzepte von Menschenrechten. Cameron will das der EU also abschaffen und stattdessen ein neues Menschenrechtsgesetz einführen.
Wäre das nicht problematisch?
Ja, und gleich in mehrfacher Hinsicht. Es würde bedeuten, dass Großbritannien, wenn es diesen Grundwert ablehnt, gezwungen sein könnte, den Europarat zu verlassen - das einzige europäische Land, das diesem nicht angehört, ist derzeit Weißrussland. - Sicherlich keine gute Optik. Noch dazu, wo die Europäische Menschenrechtskonvention eine Grundbedingung für einen Beitritt neuer Länder ist. Das passt dann nicht zusammen, wenn ein altes Mitglied aussteigt. Vor allem aber würde ein britischer Menschenrechtsakt in Schottland, Wales und Nordirland an seine Grenzen stoßen, die alle ihre eigenen Parlamente haben. Die müssten diesem Akt zustimmen, was höchst unwahrscheinlich ist. Die Schotten haben beispielsweise eine völlig andere Position als die Konservativen in England. Die sind viele fester mit der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Das heißt, das Ganze wäre dann auf ein rein englisches Gesetz reduziert. Das wiederum könnte eine Desintegration des Vereinigten Königreichs befeuern. Denn in jedem Teil wären dann Menschrechte anders definiert. In Nordirland wäre die Situation überhaupt besonders delikat.
Warum?
Weil der Frieden in Nordirland nur mit Ach und Krach durch das Karfreitagsabkommen aufgebaut wurde. Wenn man da nur einen Stein wegnimmt, droht das ganze Gebilde zusammenzubrechen. Mit dem Wegfall der Konvention würde jeder neue Ansprüche anmelden. Noch prekärer wird es im Falle eines EU-Austritts. Da müsste dann eine neue Grenze mit Passkontrollen und allem, was dazugehört, aufgezogen werden. Nordirland ist extrem sensibel, wann immer dort etwas verändert wird, werden die Experten nervös. Die Sinn Fein könnte wieder ein Referendum über die Vereinigung mit Irland verlangen und der ganze Prozess geht von vorne los.
Großbritannien hat ja in der EU eine große Tradition, Ausnahmen zu erhalten. Glauben Sie, dass eher der Wunsch besteht, mit Ausnahmen in der EU zu bleiben, oder doch ein Verlangen nach einem völligen Austritt vorherrscht?
Es ist ein wenig wie in Schottland: Die Schotten wollten auch nicht austreten, sie wollten mehr Befugnisse. Es gibt Leute in Großbritannien, die austreten wollen; Ukip hat bei den Wahlen immerhin vier Millionen Stimmen erhalten. Es gibt etwa hundert Hinterbänkler bei den Tories, die sehr euroskeptisch sind. Nicht alle von denen wollen austreten, aber es haben sogar Minister gesagt, dass sie kein Problem mit einem Austritt hätten. Cameron selbst hat gesagt, dass ihm das nicht das Herz brechen würde, auch wenn er gerne dabei bleiben würde.
Wie sehr steht Cameron politisch unter Druck?
Er steht zwar unter einem gewissen Druck von den Hinterbänklern, die ihn mit 15 Prozent der Stimmen in der Partei absetzen könnten, aber er ist nicht jemand, der unbedingt bleiben muss. David Cameron hat ausgeschlossen, dass er nach dieser Amtsperiode noch einmal als Premierminister antritt. Er hat auch gesagt, dass er nicht ewig in der Politik bleiben muss. Das befreit ihn wieder von diesem Druck, er muss keine Angst haben, dass etwas schiefgeht oder er zurücktreten muss.
Wie wahrscheinlich ist es denn, dass die EU und Großbritannien auf einen grünen Zweig kommen?
Ich denke schon, dass es Spielraum für Reformen gibt und dass die EU begonnen hat, das zu verstehen. Die EU redet beispielsweise seit langem von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (diesen zufolge darf die EU nur dann in nationalen Angelegenheiten tätig werden, wenn die Mitglieder selbst diese nicht angemessen lösen können, Anm.) und hat es bisher verabsäumt zu vermitteln, was genau das ist. Hier könnte man für nationale Parlamente etwas ändern. Zum Beispiel die gelbe Karte (die Ablehnung eines EU-Gesetzesentwurfs durch nationale Parlamente wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip, Anm.) zu vereinfachen. Momentan benötigt man dafür ein Drittel der nationalen Parlamente; vielleicht könnte man das auf drei Parlamente reduzieren. Auch bei der Personenfreizügigkeit kann man nachjustieren. Die ist zwar ein Grundwert, bezieht sich aber auf Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das heißt, man kann in einem anderen Land Arbeit suchen. Inzwischen hat sich das aber derart gewandelt, dass die Leute nicht kommen, um Arbeit zu suchen, sondern um Sozialleistungen zu suchen und das war nicht der Grundwert, den sich die EU vorgestellt hat. Unterm Strich ist ein Kompromiss sicher möglich und ich denke, dass die Mehrheit der Briten sich keinen völligen Bruch mit der EU wünscht.
Wie kann das gelingen?
Cameron muss aus den Verhandlungen irgendetwas nach Hause mitbringen und das sollte auch greifbar sein. Denn wenn es nicht genügend ist, gibt es genug Leute, die Proteststimmen sammeln könnten. Das könnte Ukip unter Nigel Farage sein, oder auch unter einem anderen Parteiführer.
Wie würde denn ein Austritt aussehen?
Ein Austritt wäre gar nicht von heute auf morgen machbar. Man kann nicht einfach 40 Jahre streichen, dazu sind die Gesetze auch viel zu sehr miteinander verflochten. Vielleicht würde man ein Sonderverhältnis einrichten, das nach dem Lissaboner Vertrag auch möglich ist.
Wie steht es um die wirtschaftlichen Konsequenzen? Allein das Schottland-Referendum hat ja schon im Vorfeld für einen Einbruch der Märkte gesorgt.
Die Märkte hassen Unsicherheit. Die Menschen selbst, glaube ich, sind nicht mit Angstmacherei zu beeindrucken. Seinerzeit wurde schon gesagt, dass die Welt zusammenbrechen würde, wenn Großbritannien den Euro nicht einführt. Jetzt sieht man, dass die eigentlich schrecklichen Dinge in der Eurozone mit Griechenland passieren und die Leute sagen: "Gott sei Dank sind wir nicht beim Euro." Es wurde schon so oft der Untergang prophezeit und die Briten sind immer durchgekommen.
Melanie Sully ist britische Politologin und war Professorin an der
Universität Wien und an der Diplomatischen Akademie. Sie ist Direktorin
des Go-Governance Instituts in Wien.