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Brisantes Patt an der Straße von Taiwan

Von Wolfgang Tucek, Taipeh

Politik

Die Republik China auf Taiwan befindet sich in einer einzigartigen Situation. Ursprünglich als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs Gründungsmitglied der UNO ringt das de facto unabhängige Land heute um internationale Anerkennung. Die Volksrepublik China sieht Taiwan als abtrünnige Provinz. Taipeh hat aber einen Beistandspakt mit den USA. Die daraus resultierende Pattsituation überschattet das politische Leben der jungen Demokratie vor den Parlamentswahlen im Dezember.


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Taipeh ist eine moderne asiatische Großstadt. In Hochhausschluchten herrscht reger Verkehr auf mehrspurigen Boulevards. Dominant wirken die omnipräsenten Mopedschwärme. Gut 300.000 der flinken Fahrzeuge sind allein in der Hauptstadt angemeldet. Mit ihnen gibt es auch in den engen Gässchen der Altstadt ein Vorankommen, wo sich Autos im Idealfall im Schritttempo ihren Weg durch die Fußgängermassen bahnen - vor allem wenn nach Einbruch der Dunkelheit die "Nachtmärkte" die Taiwanesen auf die Straßen locken.

Die Atmosphäre ist entspannt und geschäftig zugleich. Keinem hier sieht man an, dass 600 Raketen vom chinesischen Festland einem Damokles-Schwert gleich die Existenz dieser pulsierenden Stadt bedrohen. Die harte Haltung Pekings ist es auch, die Taiwan international politisch isoliert. Das Land befindet sich in einer prekären Phase. Am 11. Dezember stehen die Wahlen zum Legislativ-Yuan an, dem taiwanesischen Parlament. Beobachter sprechen von einer Richtungswahl.

Nationales Identitätsproblem

"Wir haben keine Intention den Status Quo zu ändern und die Unabhängigkeit auszurufen. Wir sind bereits ein unabhängiger Staat", stellt Universitätsprofessor Wen-cheng Lin fest. Er war bis März oberster Nationaler Berater von Präsident Chen Shui-bian für Festlandangelegenheiten. "Wir haben aber ein nationales Identitätsproblem", erläutert er gegenüber der "Wiener Zeitung". "Ein Teil der Bevölkerung unterstützt die Wiedervereinigung mit dem Festland, ein größerer Teil will auf längere Sicht die formelle Unabhängigkeit. Sofort wollen das lediglich etwa 10 Prozent - das sind Fanatiker. Die meisten sprechen sich für eine vorläufige Beibehaltung des Status Quo aus. Umfragen belegen aber auch, dass sich immer mehr eher als Taiwanesen denn als Chinesen fühlen", skizziert Lin. Der Prozentsatz dieser Taiwanesen liegt laut unterschiedlichen Umfragen zwischen 40 und 60. In knapp zwei Wochen zeichne sich daher ein spannendes Rennen zwischen den beiden politischen Lagern ab - der taiwanesisch orientierten Grünen Regierung und der ob ihrer Geschichte latent festlandverhafteten Blauen Opposition.

Machtverlust nach 50 Jahren

Bis zum Jahr 2000 wurde die Insel für mehr als 50 Jahre unter dem blauen Banner der Kuomintang (KMT) regiert. Ihr Partner ist die Peoples First Party (PFP) des früheren KMT-Politikers James Soong. Präsident Chen Shui-bian wurde erst im März mit einer hauchdünnen Mehrheit von 50,2 Prozent wiedergewählt. Seine Demokratische Progressive Partei (DPP) bildet mit der separatistischen Taiwan Solidarity Union (TSU) das Grüne Lager. Geistiger Führer der TSU ist der frühere KMT-Spitzenpolitiker und Ex-Präsident Lee Teng-hui, der heute für die sofortige formelle Unabhängigkeit und eine neue Verfassung eintritt.

Blaue Mehrheit im Parlament

Im Parlament hat das blaue Lager eine Mehrheit von 114 der 225 Sitze. Die Grünen kommen auf 100 Abgeordnete - die restlichen sind unabhängig. KMT und PFP nutzen ihren Überhang eifrig, um - ihrer Meinung nach - allzu provokante Vorstöße des Präsidenten gegen Festlandchina abzuwehren. Im Wahlkampf warnen sie vor einer Eskalation der ohnehin gespannten Beziehungen zu Peking, wenn Chens Block im Parlament die Mehrheit erringen sollte.

Tatsächlich legt Peking jedes Wort des Präsidenten, das sich in Richtung einer formellen Unabhängigkeit Taiwans interpretieren lässt, in die Waagschale. Gängig sind dann massive verbale Drohgebärden, die in letzter Konsequenz eine militärische Invasion nicht ausschließen. Besonders allergisch reagiert die Volksrepublik auf Chens Plan für ein Verfassungsreferendum im Jahr 2006 und die Verabschiedung einer neuen Verfassung 2008 - die derzeitige stammt aus dem Jahr 1947 und bezieht sich auf ein von Chiang Kai-Shek angestrebtes Großchina inklusive dem Festland und der heutigen Volksrepublik Mongolei.

Zwar hatte Chen bei seinem Amtsantritt 2000 explizit ausgeschlossen, die Unabhängigkeit zu erklären, den Namen des Landes zu ändern oder ein Referendum für die Unabhängigkeit anzustreben, um eine Gesprächsbasis mit der Volksrepublik zu schaffen. Diese beharrt jedoch bis heute strikt auf dem "Ein-China-Prinzip", das Taiwan als integralen Bestandteil der Volksrepublik ansieht, als Voraussetzung für Verhandlungen. Und dieses Prinzip als Vorbedingung anzunehmen, ist für Taiwan wiederum nicht möglich, erklärt David Huang, Vize-Vorsitzender des einflussreichen Rats für Festlandangelegenheiten, "weil wir so weit reichende Entscheidungen vom taiwanesischen Volk (per Referendum) absegnen lassen müssen".

Die "Ein-China-Politik"

Voraussetzung für den einzementierten Status Quo ist der "Taiwan Relations Act", mit dem die USA der Insel 1979 nach der Aufkündigung der offiziellen Anerkennung ihren Beistand im Falle einer festlandchinesischen Militäraktion garantiert haben. In einer Gratwanderung verfolgt Washington, wie auch die EU, zwar eine "Ein-China-Politik". Dies bedeutet aber nicht die Anerkennung des Pekinger "Ein-China-Prinzips", sondern nur die Garantie, Taiwan pro forma nicht als unabhängigen Staat zu behandeln. Dem haben sich die meisten Länder der Erde angeschlossen. Nur 27 Staaten erkennen die Republik China offiziell an. Außer dem Vatikanstaat befinden sie sich in Ozeanien, Afrika und Lateinamerika. Peking hat mit ihnen jeden diplomatischen Kontakt abgebrochen.

Warnung der Kuomintang

"Das Gefährliche ist, das niemand weiß, was der Präsident im Fall eines Wahlsiegs vorhat", warnt Stephen Chen, Ex-Botschafter des KMT-Regimes in den USA. "Einmal spricht er von ,Taiwan', dann von der ,Republik China', einmal verspricht er eine 'neue Verfassung' dann schwächt er auf ,Verfassungsänderung' ab". Die KMT stehe ganz eindeutig für die Beibehaltung des Status Quo - einer "unabhängigen Republik China". Dies wolle auch eine Mehrheit des Volkes in der Größenordnung von etwa 75 Prozent.

Erst im Oktober hat das Weltwirtschaftsforum Taiwan zum viertwettbewerbsfähigsten Land der Welt gekürt, nach Finnland, den USA und Schweden. "Also zerbrechen wir uns nicht ständig den Kopf und genießen unser gutes Leben", resümiert ein hoher Beamter im Außenministerium.