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Britannien wird immer bunter

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Globalisierung und Migration stellen die Politik vor neue Herausforderungen.


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London. Wer dieser Tage der Dezemberkälte trotzt und sich ans Tor des Buckingham-Palastes stellt, der kann, mit etwas Glück, auch etwas Ungewöhnliches erleben. Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte tritt die Palastwache nämlich nicht als einförmige Marschabteilung von Bärenfellmützen an. Ein einzelner Wachsoldat hat die Erlaubnis erhalten, ohne die unverkennbare Kopfbedeckung mitzumarschieren. Jatinderpal Singh Bhullar darf seinen Turban aufbehalten. Weil er ein Sikh ist. Und ihm seine Religion gebietet, das gute Stück auch während der Arbeitszeit nicht abzulegen.

Ein bisschen Hin und Her hat es um diese Neuerung natürlich schon gegeben. Traditionalisten haben geklagt, hier werde einer einzigen Person wegen eine 180 Jahre alte Gewohnheit geopfert. Ein Turban inmitten von Bärenfellmützen? Das sei doch lächerlich. Wie könne man Queen, Vaterland und Touristen einen solchen Stilbruch zumuten?

Aber das Verteidigungsministerium hat sich nicht beirren lassen. Wo Sikhs auf vielerlei Weise die kämpfende Truppe verstärkten, fand es, könne man ihnen schlecht den Dienst vorm Palast verweigern - oder sie zum Abnehmen des Turbans zwingen. Mit diesem Beschluss hat die britische Regierung für eine kuriose neue Fotokulisse vorm Buckingham gesorgt. Der alte Einheitslook ist hin. Im neuen drückt sich Respekt vor ethnischer Vielfalt aus. Eine erstaunliche Toleranz der Institutionen.

Ist es aber ein Zufall, dass Jatinder Singh Bhullar just in jenem Augenblick auf der Bildfläche erscheint, in dem ganz England einen prüfenden Blick in den Spiegel wirft? Gerade sind die Ergebnisse der Volksbefragung vom vorigen Jahr enthüllt worden. Und da hat sich vor allem eines erwiesen: dass die Nation, deren gekröntes Haupt auch Mr. Bhullar bewachen hilft, in ihrer Zusammensetzung einen bemerkenswerten und ausgesprochen schnellen Wandel durchläuft.

Sehr viel bunter nämlich ist das Gesicht Britanniens in den zehn Jahren seit dem letzten Zensus geworden. Die Zahl der Insulaner, die sich als "weiße Briten" einordnen, ist spürbar gesunken. Dafür hat sich die der schwarzen und asiatischen Briten, der auswärtigen Weißen (vornehmlich aus Osteuropa) und die anderer ethnischer Gruppen fast verdoppelt - auf insgesamt 11 Millionen Menschen.

Jenseits des Cockney-Akzents

13 Prozent aller Personen, die heute in England und Wales leben, sind nicht in Großbritannien geboren. 2001 waren das nur 9 Prozent. Globalisierung und Migration auf allen Ebenen haben das "alte" Britannien aufgemischt. Sehr viel verflochtener als früher präsentieren sich aber nicht nur einzelne Lokalitäten. Neben Stadtteil-Vielfalt tritt die neue Integration im Kleinen. Jeder achte Haushalt setzt sich heute schon aus Partnern unterschiedlicher ethnischer Herkunft zusammen.

Am weitesten fortgeschritten ist diese Entwicklung im kosmopolitischen London. 2001 haben "weiße Briten" hier noch 60 Prozent der Bevölkerung ausgemacht. Heute sind es gerade mal 45 Prozent. "Der Londoner" ist längst nicht mehr der "typisch englische" Taxifahrer mit dem Cockney-Akzent und dem trockenen Humor, den wir aus alten Filmen kennen. Bereits jeder dritte Londoner gibt an, ein "Zugezogener" zu sein - zugezogen aus anderen Teilen Europas, oder von anderen Kontinenten.

Noch viele andere Veränderungen, ernster wie heiterer Art, hat die Volksbefragung enthüllt. Norwich, die Kathedralenstadt in East Anglia, die über die meisten mittelalterlichen Kirchen nördlich der Alpen verfügen soll, muss nunmehr als die gottloseste Gemeinde im ganzen Königreich gelten. 42,5 Prozent ihrer Bewohner wollen laut den Zensusergebnissen mit keiner Religion etwas zu tun haben. Nord-Londons Stadtteil Islington meldet die meisten Unverheirateten im Lande (60 Prozent). Und Blackpool, das Seebad an der nordwestenglischen Küste, die meisten Geschiedenen (13 Prozent).

Im walisischen Blaenau Gwent sind die Leute so arm, dass sie an Auslandsreisen nicht denken können. Drei von zehn Personen verfügen hier über keinen Reisepass (und Personalausweise gibt es ja nicht). Die Zahl der Mieter aber in einem Land, in dem von alters her "mein Heim mein Schloss" war, hat sich verdoppelt. Die Hauspreise, vor allem in London, sind für junge Leute unerschwinglich geworden sind. Hausbesitz beginnt ein Privileg zu werden.

Bunt als Chance

Die Zensus-Zahlen haben viele Fragen aufgeworfen - für Planer, Politiker, Kirchenleute, Kommunen. Zum Beispiel lassen sie erkennen, warum traditionelle englische Identität rapide am Schwinden ist. Das schafft, wo sich Verunsicherung festsetzt, natürlich auch Probleme und Ressentiments. In ihrer Einwanderungs- und Europa-Politik richten sich beide großen Parteien gern nach solchen Gefühlen.

Positiv gewendet, ist aber die wachsende Völkervielfalt in Großbritannien und in London, der Stadt der 300 Sprachen, auch eine historische Chance. Das buntgewürfelte "Team GB" bei den gutgelaunten Olympischen Spielen an der Themse in diesem Sommer war so etwas wie ein Vorgeschmack auf das, was England sein kann, wenn es sich auf seine neue Stärke besinnt - und sich nicht länger an Landherren-Attitüden der Vergangenheit klammert oder sich von Gruselstorys der Boulevardpresse verrückt machen lässt.

Erstaunlich ruhig, das muss man den Briten schließlich lassen, haben sie bislang diesen radikalen Wandel in ihrem Land bewältigt. Verwerfungen hat es gegeben, aber keine größeren Katastrophen. Gewiss werden neue Herausforderungen auch neue Antworten nötig machen. Aber der Turban unter den Bärenfellmützen zeigt, in welche Richtung es gehen kann.