Zum Hauptinhalt springen

Briten reißt die Geduld

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Größter Streik seit mehr als 30 Jahren gegen Pensionsreform der Konservativen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

London. Lang genug haben die Briten den Marsch empörter Menschen durch die Straßen Südeuropas auf ihren Bildschirmen verfolgt. Neuerdings, unter dem Eindruck einer sich rasch verfinsternden Wirtschaftslage, beginnt auch ihnen, auf der Insel, der Geduldsfaden zu reißen.

"Zeit, dass wir unserer Regierung mal die Meinung sagen", sagt eine Demonstrantin, die sich vorm Parlament von Westminster postiert hat. "Was die uns hier aufbrühen, ist doch ein widerlicher politischer Sud." Sie selbst, erklärt sie, arbeite normalerweise als Dinner-Lady drinnen, im Unterhaus. Aber an diesem Tag lässt sie die Abgeordneten für sich selbst sorgen. Wie ihre Kollegen vom Putzkommando und von der Wachstaffel des Palastes von Westminister ist sie dem Ruf ihrer Gewerkschaft gefolgt und in den Ausstand getreten. "Wir haben viel zu lange geschwiegen. Jetzt kriegen wir dafür die Rechnung präsentiert."

"Hands off our pensions", Hände weg von unseren Renten, ist auf den Plakaten zu lesen, die vor den Unterhaus-Toren geschwungen werden. Auf die geschmälerten Renten im öffentlichen Dienst konzentriert sich der allgemeine Zorn. Kräftig erhöhte Beitragsleistungen und ein künftiger Rentenbeginn mit 67 Jahren haben die Leute auf die Straße getrieben. Rentenwerte in der Höhe von zehntausenden von Pfund drohen einzelnen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes verloren zu gehen.

Viele fühlen sich schlicht um den Lohn für jahrzehntelange Arbeit betrogen. Ihr aktueller Lohn darf ohnehin, auf Anordnung der Schatzkanzlei, vier Jahre lang um nicht mehr als 1 Prozent ansteigen - bei einer Inflationsrate von gegenwärtig über 5 Prozent. Das bedeutet kräftige Lohneinbußen, ganz abgesehen von anderen Belastungen und Ängsten. Am Tag zuvor erst, in der Haushaltserklärung des Schatzkanzlers, ist der Nation eröffnet worden, dass bis 2016 mindestens 700.000 Jobs im öffentlichen Dienst verschwinden werden. Bisher war höchstens von 400.000 die Rede gewesen.

Die Regierung glaubt keine andere Wahl zu haben. In der gestrigen Fragestunde des Premierministers bestand David Cameron erneut darauf, dass die Rentenreform nötig sei, um die von der früheren Labour-Regierung verursachten Schuldenlöcher zu stopfen. Man habe, sagte Cameron, dem öffentlichen Dienst "ein sehr vernünftiges, ein äußerst faires Angebot" gemacht. Noch immer seien die dort Beschäftigten besser gestellt als Arbeiter und Angestellte im privaten Sektor.

Das mögen die Gewerkschaften nicht gelten lassen. Vor allem im Bereich der unteren Einkommen, meint der Boss der Gewerkschaft Unison, Dave Prentis, bedeuteten die Einschnitte "den reinsten Raubbau". Kein Wunder, dass seine sonst kaum militant zu nennenden Mitglieder "die Nase voll" hätten.

Vor allem Spitäler und Schulen betroffen

In der Tat hat man in Großbritannien einen landesweiten Ausstand wie den gestrigen seit mehr als 30 Jahren nicht gesehen. 1979, in Labours "Winter der Unzufriedenheit", hatten eineinhalb Millionen die Arbeit niedergelegt. Zwei Millionen sollen es diesmal, beim Protest gegen die rechtsliberale Regierung, gewesen sein.

Von Englands Büchereien bis zu Schottlands Sozialämtern, von der Müllabfuhr über die Schulkantinen bis hin zu den Hohen Gerichten des Königreichs kam vielerorts die Arbeit zum Erliegen. Ganze städtische Verwaltungen fanden sich für 24 Stunden gelähmt. In Nordirland verkehrten keine Busse und Bahnen. In Wales konnten Ambulanzen nicht ausrücken.

In den Flughäfen des Landes, wo die Regierung wegen des Streiks der Grenzbeamten in den letzten Tagen pures Chaos an die Wand gemalt hatte, kamen einfliegende Passagiere einigermaßen glimpflich davon. Um den Ausfall des regulären Personals auszugleichen, hatte die Regierung Polizisten, Militärs und andere Staatsbeamte in einem Schnellkurs zur Übernahme der Grenzkontrollen "befähigt". Sogar einige Mitarbeiter Camerons aus No. 10 Downing Street, aus dem Beraterstab des Premierministers, waren angewiesen worden, sich zum Pässe-Kontrollieren nach Heathrow zu begeben.

Erheblich getroffen vom Streik waren hingegen die Kliniken des Landes. Tausende "weniger dringliche" Operationen im größten öffentlichen Gesundheitswesen der Welt wurden abgesagt. Und neun von zehn Schulen im Land waren ganz geschlossen oder nur sehr beschränkt einsatzbereit. Werktätige Eltern mussten sich für Kinder Notlösungen ausdenken.

Labour-Chef Ed Miliband tat sich schwer mit dem Aufbegehren der öffentlichen Bediensteten. Er habe "enorme Sympathie" für alle vom Streik betroffenen Bürger, beteuerte er immer wieder. Jedoch könne er "die Dinner-Ladies, Krankenschwestern und Lehrer, die diesen Streikbeschluss gefasst haben, nicht verurteilen". Mit seiner taktischen Neutralität in der Streikfrage machte sich Miliband weder hier noch da Freunde.