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Briten vor einer harten Landung

Von Reinhard Göweil

Politik
© Irma Tulek

In Brüssel wird ein "Hard Exit" Großbritanniens erwartet - die zweijährige Verhandlungsfrist reicht bei Weitem nicht.


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Brüssel. "Brexit bedeutet Brexit", lautet der Stehsatz der britischen Premierministerin Theresa May. Abgesehen von der unbestreitbaren Logik des Satzes sind aber noch wenig Konturen zu erkennen, wie und in welcher Art Großbritannien aus der EU austreten wird. Während EU-Kommission, Europaparlament und der Rat der 27 Regierungschefs in seltener Einigkeit einen raschen Antrag der britischen Regierung fordern, bremst London. May sagte zuletzt Ratspräsident Donald Tusk, zuerst müsse eine "Verhandlungsposition" aufgebaut werden. Es geht dabei um den Artikel 50 des EU-Vertrages, der festlegt, dass zwei Jahre nach dem Ansuchen der Austritt in Kraft tritt.

Hinter dem politischen Gezerre stecken natürlich handfeste wirtschaftliche Auswirkungen - und auch sehr menschliche Gründe. Die britische Regierung will den Artikel 50 so spät wie möglich auslösen und versucht bis dahin, die wirtschaftlichen Auswirkungen besser analysieren zu können. Denn eines ist der Regierung in London wohl klar, auch wenn sie dies bisher der britischen Öffentlichkeit vorenthielt: Der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs wird eine harte Landung. "Hard Exit" wird das in Brüssel genannt.

"Die zwischen der EU und Großbritannien neu zu vereinbarenden Abkommen sind derart umfangreich und komplex, das geht sich in zwei Jahren wohl nicht aus", sagte Thomas Wieser, Spitzenbeamter im Europäischen Rat, dessen Arbeitsgruppe die "Eurogruppe" vorbereitet. Zum Vergleich: Das umstrittene Ceta-Handelsabkommen zwischen Kanada und der EU verschlang fünf Jahre.

Mit leeren Händen aus der EU

Hermann Hauser, Unternehmer und Mitbegründer der britischen Start-up-Szene um die Universität Cambridge, stößt ins selbe Horn. "Zwei Jahre reichen bei Weitem nicht aus, um die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU völlig neu zu regeln. Die Frist kann zwar verlängert werden, aber dem müssen alle 27 EU-Regierungschefs zustimmen. Die werden das vielleicht sogar machen, aber höchstens um sechs Monate oder ein Jahr. Das ist auch nicht genug Zeit."

In den europäischen Institutionen Brüssels wird daher erwartet, dass Großbritannien ohne fixe Vereinbarungen mit der EU austreten wird. "Hard Exit" ist dafür noch eine nette Umschreibung. Großbritannien würde vorerst mit leeren Händen dastehen, für internationale Investoren wäre das der endgültige Grund, die britische Insel fluchtartig zu verlassen. Denn die Briten, im Empire so was wie die Erfinder der Globalisierung, würden ohne internationale Handelsabkommen dastehen. Unternehmen hätten keine Basis, Verträge abzuschließen, die Rechtssicherheit würde sich Richtung Nordkorea bewegen. Dieser "Hard Exit" würde zwar auch die EU treffen, aber vergleichsweise gering. Großbritannien, so die Einschätzung Brüsseler Thinktanks, würde in eine tiefe Rezession stürzen mit stark steigender Arbeitslosigkeit. Und von Europa abgekoppelt werden.

Nun haben die Befürworter des Brexit der britischen Bevölkerung versprochen, dass es keine Zahlungen mehr ins EU-Budget geben wird. Abgesehen von einem Einmaleffekt 2015 waren dies zuletzt zwischen fünf und sieben Milliarden Euro pro Jahr. Diese Zahl ist aber bloß ein Saldo. Bei den Forschungsprogrammen ist Großbritannien aufgrund der Qualität der Universitäten und sonstiger Forschungseinrichtungen Nettoempfänger.

16.000 junge Briten in Erasmus

Hermann Hauser, der im "britischen Silicon Valley" rund um Cambridge tätig ist, beziffert diese Zahl auf etwa drei Milliarden Euro pro Jahr. "Wenn dieses Geld nicht von der britischen Regierung bereitgestellt wird, wird es viele Projekte bald nicht mehr geben. Denn die laufen oft über Jahre. Was macht ein Forscher, der weiß, dass in zwei Jahren die EU-Fördermittel einfach ausbleiben? Wenn er kann, wird er in ein EU-Land gehen." Im Bereich Nanotechnologie und Biomedizin stammen 60 Prozent der Mittel in Großbritannien aus EU-Mitteln, errechnete die Gedankenschmiede "Digital Science".

Wenn die Briten aber bei ihrem Brexit-Versprechen bleiben, künftig nichts mehr in den EU-Haushalt einzuzahlen, fällt die Insel auch aus einem der besten und sympathischsten EU-Programme heraus: Erasmus. Das Programm dient dem europaweiten Austausch von Studierenden, die sich in den EU-Ländern jene Universität aussuchen können, an der sie studieren wollen. Es ist mittlerweile auch für nicht-universitäre Ausbildung geöffnet worden.

Bis 2020 stellt die EU dafür 13 Milliarden Euro zur Verfügung - vier Millionen Jugendliche können so ihre Ausbildung über ihr Herkunftsland hinaus organisieren. Untersuchungen belegen, dass die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen, die an Erasmus-Programmen teilnahmen, um 23 Prozent niedriger liegt als unter vergleichbaren Gleichaltrigen, die ihr Land nicht verlassen haben. "Wer nicht einzahlt, nimmt nicht teil", sagte Wieser trocken. Großbritannien würde von Ideen abgeschnitten. Derzeit sind etwa 27.000 Studierende über Erasmus-Programme in Großbritannien und knapp 16.000 junge Briten lernen am Festland. All diese Netzwerke drohen zerschnitten zu werden, warnt "Digital Science".

Beamten-Widerstand

All dies kam bei der Brexit-Kampagne nicht vor, war aber natürlich der Regierung und der britischen Verwaltung klar. Die höheren Beamten in Whitehall, jenem Londoner Bezirk, in dem sich die wichtigsten Ministerien aneinanderreihen, stimmten denn auch für "remain", also für die EU-Mitgliedschaft. Nun müssen Spitzenbeamte gefunden werden, die bereit sind, mit der EU jenen Austritt zu verhandeln, der dann von den verantwortlichen Politikern endverhandelt und entschieden wird. "Es gab gleich einmal eine Verzögerung, weil sich zu wenige britische Spitzenbeamte bereit erklärten, eine Aufgabe zu übernehmen, die dem Vereinigten Königreich nur Schaden verursacht", erzählte ein britischer Vertreter jüngst beim Europäischen Forum Alpbach. Darüber hinaus gab es offenen Widerstand in London. Das erste Treffen der britischen Brexit-Gruppe musste in einer Starbucks-Filiale stattfinden, weil Ministerien keinen Verhandlungsraum zur Verfügung stellen wollten.

Dazu gesellt sich ein weiteres Problem: Internationale Handelspolitik ist seit mehr als 20 Jahren EU-Angelegenheit. Daher arbeiten zwar viele Briten bei den EU-Institutionen, die als ausgewiesene Experten gelten. Aber in der britischen Verwaltung gibt es - so Informationen aus der Europäischen Kommission - nur noch fünf Experten, deren Expertise ausreicht, um Handelsabkommen mit dem Rest der Welt vorzubereiten. Der Austritt würde aber eine Fülle solcher Abkommen notwendig machen.

US-Präsident Barack Obama erklärte seiner britischen Kollegin May vorige Woche bei einem Treffen der 20 größten Industrienationen im ostchinesischen Hangzhou, dass sich die Briten in Washington hinten anstellen müssten. Der japanische Regierungschef Abe übergab May ein 15-seitiges Papier, in dem er die Risiken für japanische Investoren in Großbritannien, wie etwa Autokonzerne, auflistete.

London verliert Euro-Clearing

Darüber hinaus hat May allein in diesem Bereich noch ein derzeit unüberwindbares Problem: Großbritannien will ja trotz EU-Austritt am "europäischen Binnenmarkt" teilnehmen, um den Unternehmen der Insel den 440-Millionen-Einwohner-Markt zu erhalten. Das geht aber nur, wenn sich die Briten weiterhin der EU-Handelspolitik unterwerfen, ohne dann selbst mitverhandeln zu können. Norwegen und die Schweiz haben dies ebenso akzeptieren müssen. "Brexit bedeutet Brexit", mag daher logisch klingen, aber ob der Satz stimmen wird, ist mehr als fraglich.

Die Nachfolgerin von David Cameron ist wahrlich nicht zu beneiden, denn die Probleme türmen sich auch innerhalb des Vereinigten Königreichs. Wieser: "Das sogenannte Euro-Clearing wird London nach dem Austritt aus der EU sicher verlieren." Ähnliches ist aus der Europäischen Zentralbank zu hören. Nun haben diese Finanzinstitute in der Londoner City etwa 40 Prozent des weltweiten Devisenhandels mit der Gemeinschaftswährung in der Hand. Wir reden hier von täglichen Euro-Devisengeschäften in Höhe von einer Billion Euro, also 1000 Milliarden. Dazu kommen noch sogenannte Derivat-Geschäft rund um den Euro, salopp formuliert Zinswetten, von weiteren 930 Milliarden Euro. Da der Euro - mit Respektabstand - nach dem Dollar die zweitwichtigste globale Währung ist, macht die ganze Welt mit Euro Geschäfte. Und deren Händler sitzen zum Großteil in London, ein paar tausend hochbezahlte "Banker".

Dieses Geschäft wird London verlieren. Nicht nur für Luxusimmobilien in London ist das schädlich, sondern auch für die Reputation des Finanzplatzes London. Er verliert eines seiner globalen Standbeine, die "City" wird nach dem Brexit provinzieller sein.

Exit vom Brexit

Allein die aufgelisteten Probleme sind - neben den sozialen Folgen innerhalb Großbritanniens und dem dann wahrscheinlichen Austritt Schottlands aus dem Vereinigten Königreich - kaum lösbar. Also wird natürlich über den Exit aus dem Brexit nachgedacht. Die Austrittsbefürworter waren mit 51,9 Prozent nicht so weit vorne. Nun steht die nächste Parlamentswahl auf der Insel im Frühjahr 2020 an. Im Frühjahr 2019 allerdings findet die Europawahl statt. In dieser Zeit wird der "Hard Exit" schlagend, da die Briten den Artikel 50 irgendwann Anfang 2017 auslösen wollen. Ab dann gilt die Zwei-Jahres-Frist. Durchaus möglich, dass die Briten ihre Wahl um ein Jahr vorverlegen und die Briten dann gar nicht mehr austreten wollen.

Für die EU wäre ein Verbleib Großbritanniens ein enormer Erfolg. Und der jetzige Außenminister Boris Johnson und Rechtsaußen-Politiker Nigel Farage, die beiden Gesichter der Pro-Brexit-Kampagne, dürften dann schon der Vergangenheit angehören...