Der wichtigste Berater des britischen Premiers hat die Lockdown-Regeln gebrochen, doch Johnson hält an ihm fest. Damit riskiert er alles.
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Als die britische Regierung die Bevölkerung am 23. März dazu aufruft, zu Hause zu bleiben, entscheidet sich Dominic Cummings anders. Zwar ist die Ehefrau des wichtigsten Beraters von Premier Boris Johnson an Covid-19 erkrankt. Doch anstatt sich zu Hause in London in Quarantäne zu begeben, fährt Cummings mit seiner Frau und dem vierjährigen Sohn 430 Kilometer weit quer durch England nach Durham. Dort leben die Eltern des 48-Jährigen, die sich um ihren Enkel kümmern sollen.
Doch damit nicht genug: 14 Tage später – inzwischen ist auch Cummings erkrankt – macht der Politikberater mit seiner Frau einen Ausflug nach Barnard Castle. Ein Einheimischer sieht die beiden durch die Kleinstadt schlendern und erstattet Anzeige. Die Polizei nimmt Ermittlungen auf, immerhin hatte die Regierung Tagesausflüge explizit untersagt. Ein Passant behauptet zudem, Cummings in Durham beim Joggen gesichtet zu haben – fünf Tage, nachdem es vonseiten der Regierung geheißen hatte, er befände sich wieder in London.
"Väterlicher Instinkt"
Der Skandal trägt absurde Züge: Cummings hat ausgerechnet jene Regeln gebrochen, die er selbst mitverfasst hatte. Doch Johnson steht weiterhin hinter seinem Berater. Am Sonntag verbrachten die beiden mehrere Stunden im Regierungssitz in der Downing Street. Danach behauptete Johnson, Cummings habe "verantwortungsbewusst, integer und rechtlich einwandfrei" gehandelt, als er in dieser "außergewöhnlichen schwierigen Frage der Kinderbetreuung" Hilfe bei seiner Familie suchte. Cummings sei seinem "väterlichen Instinkt gefolgt". Manche Behauptungen seien "eindeutig falsch", sagte Johnson – freilich ohne klarzustellen, welche.
Unbeantwortet blieb auch, ob Johnson von Cummings‘ Trip gewusst hatte.
Die Empörung über Cummings Verhalten und Johnsons Ausweichmanöver ist groß, auch innerhalb der Tories. Rund 20 konservative Abgeordnete fordern Cummings‘ Rücktritt, die Opposition tobt, selbst die Bischöfe der mächtigen Kirche von England rügen Johnson für seine fehlende Moral. Kritik kommt auch von Experten, die die Regierung in der Corona-Krise beraten. Johnson habe alle Empfehlungen "innerhalb weniger Minuten zerschlagen", schrieb etwa Stephen Reicher von der Andrews Universität: Weder sei Johnson ehrlich gewesen, noch respektiere er die Bevölkerung oder handle konsequent, so der Psychologe auf Twitter.
Der Schaden ist getan, daran hat auch Cummings‘ halbherziger Erklärungsversuch von Montagabend nichts geändert. Nach Drohungen gegen ihn habe er sich Sorgen um seine Frau und seinen Sohn gemacht und sie zu seinen Eltern gebracht, wo sie in einem separaten Haus untergebracht gewesen seien, so Cummings bei einer Pressekonferenz im Rosengarten der Downing Street. Alle weiteren Vorwürfe stritt er ab. Johnson habe nichts von dem Trip gewusst. Für Kopfschütteln sorgte Cummings' Erklärung für seinen Aufenthalt in Barnard Castle: Es habe sich um eine Testfahrt gehandelt, so Johnsons Spindoktor. Er habe Probleme mit den Augen gehabt und seine Sehstärke beim Fahren kontrollieren wollen. Ein Sehtest im Auto? Mit Frau und Kind an Bord? Es wird wohl nicht viele Menschen geben, die ihm diese Geschichte abnehmen.
Die Stimmung kippt
Mit seinem Versuch, die Karriere seines engsten Vertrauten zu retten, riskiert Johnson viel. Als Chefberater der Regierung ist Cummings der strategische Kopf hinter dem Premier. Und der hat ihm viel zu verdanken. Vor dem EU-Referendum leitete Cummings die Vote-Leave-Kampagne. Mit einer Mischung aus antieuropäischer Propaganda und Fake News führte er die Brexiteers zum Sieg – und half letztlich Boris Johnson, dem wichtigsten Vertreter des Anti-EU-Lagers, Premier zu werden. Nun fragen sich viele, wer in der Downing Street eigentlich das Sagen hat.
Cummings‘ Verhalten ist symbolisch für alles, was den Tories vorgeworfen werden kann: Klassenarroganz, das Spiel mit der Wahrheit und die Überheblichkeit einer Elite, die sich nicht um das Volk schert. In diese Kerbe schlägt auch Labour-Chef Keir Starmer. Johnsons Entscheidung, nicht gegen Cummings vorzugehen sei "eine Beleidigung angesichts der Opfer, die das britische Volk in der Corona-Krise bringen musste".
All das könnte Johnson ernsthaft schaden. Die Stimmung gegen den Premier hat sich gedreht, seine Umfragewerte sinken. Johnsons Krisenmanagement war katastrophal, mit fast 37.000 Toten hat Großbritannien mehr Corona-Opfer zu verzeichnen als jedes andere europäische Land.
Selbst der Tory-Abgeordnete Steve Baker, früher Chef der konservativen Brexit-Hardliner, sagte am Sonntag: "Das können wir uns nicht mehr leisten. Cummings muss gehen." Und auf dem offiziellen Twitter-Account der britischen Regierungsbeamten hieß es kurz nach Johnsons Pressekonferenz: "Arrogant und beleidigend. Können Sie sich vorstellen wie es ist, mit diesen Wahrheitsverdrehern zusammenzuarbeiten?" Der Tweet wurde bald gelöscht. Doch die Affäre ist längst nicht ausgestanden.