Ältestes Postwesen der Welt laut Kritikern weit unter Wert privatisiert.
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London. Von heute Dienstag an darf sie an der Börse frei gehandelt werden - die begehrteste und zugleich umstrittenste britische Aktie seit den neunziger Jahren. Damals öffnete noch John Majors Tory-Regierung privatem Kapital die Türen zum Einstieg bei den britischen Eisenbahnen. Jetzt hat die liberalkonservative Koalition unter David Cameron die Royal Mail aufs gleiche Gleis gesetzt.
Postman Pat, der allen Insel-Kindern bekannte Inbegriff des britischen Briefträgers, wird künftig nicht mehr nur seinen alten Dienst an der Gesellschaft versehen. Er soll stattdessen nun auch Aktionären und Investoren die Taschen füllen. Dass 96 Prozent der Postler, aber auch zwei Drittel der Bevölkerung gegen diese Privatisierung waren, konnte die Regierung nicht beirren.
Der Schritt sei notwendig geworden, erklärt der liberaldemokratische Wirtschaftsminister Vince Cable, um dem Unternehmen zwecks Modernisierung und Konkurrenzfähigkeit frisches Kapital zuzuführen. Von heute an sind so rund 70 Prozent des vormaligen Staatsunternehmens in privater Hand. 10 Prozent davon hat man als Gratis-Aktienpakete an die Belegschaft übergeben. Die übrigen 60 Prozent wurden an Klein-Aktionäre und an große institutionelle Anleger verkauft. Der Rest wird abgestoßen, sobald sich eine günstige Gelegenheit ergibt.
An Käufer-Interesse hat es nicht gemangelt. 730.000 Anleger wollten Aktien kaufen - das sind zehnmal mehr, als Cable erwartet hatte. Den Löwenanteil hatte die Regierung bereits zuvor Banken, Hedgefunds und anderen Finanzinstitutionen versprochen. Deren Weigerung aber, mehr als 330 Pence pro Aktie zu bezahlen, hatte offenbar zur Festsetzung des Aktienpreises geführt - eben bei 330 Pence. Als dann die Aktie nach Ausgabe am vorigen Freitag prompt auf über 450 Pence hochschnellte, musste sich der Minister sagen lassen, er habe die Royal Mail weit unter Wert verkauft.
Cable hob beschwichtigend die Hände. In drei bis sechs Monaten, wenn "der Schaum sich gesetzt" habe, werde man erst den echten Aktienwert abschätzen können, meinte er. Mit dem "Schaum" waren die Neuaktionäre aber durchaus schon zufrieden. Sie hatten über Nacht einen Gewinn von mehr als einem Drittel ihres Einsatzes verbucht.
"Bestechungsgeld" für Pat
Besonders gut abgeschnitten hatten die Royal-Mail-Bediensteten selbst. Die ihnen zugeteilten Gratis-Aktienpakete von 2200 Pfund per Kopf sind schon vor der heutigen Börsen-Freigabe auf beinahe 2900 Pfund gestiegen. Nur ein paar hundert der rund 150.000 Betriebsangehörigen weigerten sich aus Prinzip, "das Bestechungsgeld" anzunehmen. Die anderen steckten die Aktien stillschweigend ein - nicht zuletzt, weil sie jetzt einen raschen Personal- und Lohnabbau und generell härtere Zeiten befürchten.
Die Privatisierung der Royal Mail markiert einen neuen Meilenstein politischen Ehrgeizes in Großbritannien. Nicht einmal Margaret Thatcher, die in den achtziger Jahren jede Menge Staatsbesitz in "Volksaktien" umwandelte, wagte die Royal Mail anzutasten. Sie sei "nicht bereit, den Kopf der Königin zu privatisieren", wehrte die Eiserne Lady entsprechende Vorschläge ab. Immerhin handelte es sich beim britischen Postwesen auch um das älteste und berühmteste der Welt.
Aber nicht alles soll sich ändern. Die Briefkästen sollen die Insignien der Queen weiter tragen, der Kopf der Königin seinen Platz auf den Marken behalten und der Einheitspreis für die Zustellung bis in die letzten Ecken des Königreichs weiter gelten - auch wenn kaum jemand glaubt, dass es dabei sehr lange bleiben wird.