Der britische Botschafter Leigh Turner zum Brexit und den zukünftigen Beziehungen zwischen EU und Großbritannien.
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Weit über eine Stunde dauerte das Gespräch mit dem britischen Botschafter in seiner Residenz in der Metternichgasse im dritten Bezirk am Montag, dem letzten Tag vor dem zweiten Lockdown. "Das wird wohl das letzte persönliche Gespräch mit Journalisten für einige Zeit sein", sagt Turner. Es gibt Tee in edlem Porzellan, und Turner gibt einen Einblick in den Stand der derzeitigen Verhandlungen aus britischer Sicht.
"Wiener Zeitung": Die Brexit-Verhandlungen sind in der Zielgeraden. Es spießt sich noch bei den Themen staatliche Beihilfen und Fischerei. Herr Botschafter, wo stehen die Verhandlungen aus britischer Sicht?
Leigh Turner: Es wird nun seit mehreren Wochen sehr intensiv verhandelt. Seitdem wir von europäischer Seite Texte bekommen haben, können wir nun in den Verhandlungen Tacheles reden. Die Hauptstreitpunkte haben Sie in Ihrer Frage genannt: In diesen Verhandlungskapiteln ist es in den vergangenen Wochen sehr hart zur Sache gegangen. In der Fischereifrage war die Position der EU-Kommission so, als ob wir noch Mitglied der EU wären – sowohl was den Zugang zu britischen Gewässern, als auch die Fischereiquoten betrifft. Wenn sich nach dem Brexit alles ändern soll – Handel, Sicherheit, Bildung – und bei der Fischerei bleibt alles wie früher, dann ergibt das doch keinen Sinn.
Die Fischerei macht 0,04 Prozent der britischen Wertschöpfung aus, ist also ein wirtschaftlich völlig unbedeutendes Thema. Warum sollte London ein Handelsabkommen mit der EU daran scheitern lassen?
Nun ja, genau dasselbe könnte man auch von der EU sagen. Es haben eben beide Seiten ihre Position in dieser Frage. Nachdem wir die EU Ende Jänner 2020 verlassen haben, ist Großbritannien jetzt ein unabhängiges Land. Und es kann nicht sein, dass wir einfach so tun, als ob nichts geschehen wäre.
Aber britische Fischerboote exportieren 80 Prozent des Fangs in die EU. Warum soll die EU diese Exporte weiterhin ermöglichen, ohne zugleich Zugang zu britischen Gewässern zu haben?
Die Kommission ist bisher eine sehr harte Linie gefahren. Es kann aber sein, dass wir jetzt zu einer Vereinbarung kommen. Ich hoffe es. Aber die Fischerei ist ein sehr schwieriger Bereich - man darf nicht vergessen, dieses Thema ist bei beiden Verhandlungspartnern auch mit Emotionen verbunden: Es geht um Nahrung, es geht um einen Wirtschaftszweig, den es seit tausenden von Jahren gibt.
Der zweite Streitpunkt ist die Subventionspolitik.
Stimmt. Aber: Großbritannien ist nicht gerade als Subventionsparadies bekannt. In der Vergangenheit hat die EU-Kommission kaum jemals ein Verfahren gegen Großbritannien wegen unerlaubter Subventionen eingeleitet, während Frankreich, Deutschland oder Italien immer wieder am Pranger gestanden sind. Trotzdem hat die EU-Kommission in den Verhandlungen eine sehr harte Linie verfolgt. Da wurde verlangt, dass Großbritannien die gleiche Politik verfolgen soll, wie jene, die in Brüssel entschieden worden ist. Das ist für ein Freihandelsabkommen ohne Präzedenzfall.
Ein weiterer Konfliktpunkt: Wer soll im Fall von Meinungsunterschiedenzwischen EU und Großbritannien entscheiden.
Das kann natürlich nicht der Europäische Gerichtshof sein - wie von EU-Seite vorgeschlagen –,sondern es muss eine neutrale Stelle sein werden.
In welchen Bereichen hat es die wenigsten Probleme gegeben?
In Sachen Sicherheit, Luftfahrt, Bildung. Was die Bildung angeht, hat Großbritannien klar gemacht, dass wir sehr gern weiterhin Teil von Erasmus-Plus und Horizon 2020 bleiben wollen, wenn das zu einem fairen Preis möglich ist. Freilich: Verhandelt wird nicht in Wien, Paris oder in Berlin, sondern in London und Brüssel. Aber wir hoffen auf Fortschritte. Großbritannien will einen Deal.
Ist das wirklich der Fall? Es sind zwar zuletzt zwei enge und wichtige Pro-Brexit-Berater von Boris Johnson gefeuert worden, aber Johnson selbst wirkte nie so, als läge ihm ein Deal mit der EU am Herzen. Der Brexit wird – nach dem Versagen der Regierung in der Covid-19-Krise – sein einziges Erbe sein. Wenn Boris Johnson die Verhandlungen als Erfolg verkaufen kann, dann hat die EU-Kommission etwas falsch gemacht und der britischen Seite zu viel zugestanden. Denn Großbritannien will die Scheidung, nicht die EU.
Mit dieser Perspektive bin ich nicht einverstanden. Das ist doch kein Nullsummenspiel. Der Brexit ist eine Realität. Jetzt geht es um die zukünftige Beziehung und um ein Freihandelsabkommen.
Seit dem Brexit nervt Großbritannien die EU und bindet politische Kapazitäten. Großbritannien hat in Europa durch das Brexit-Drama viel Ansehen verloren. Wie wollen Sie dieses Ansehen zurückgewinnen?
Ich bin da anderer Meinung. Wenn man sich die Geschichte der Entwicklung der EU in den letzten 40 Jahren anschaut, dann sieht man viele Bereiche, in denen Großbritannien eine sehr positive Rolle gespielt hat – etwa bei der Reform des Etats. Jahrzehntelang wurden fast alle EU-Gelder für Agrarförderung ausgegeben. Weil Großbritannien sich dafür eingesetzt hat, diese Praxis zu beenden, ist dieser Budgetposten geschrumpft. Den Binnenmarkt hätte es ohne britisches Engagement wohl nie gegeben, genauso wenig wie die Osterweiterung, die Großbritannien von Anfang an unterstützt hat. Also: Übertreiben Sie mal nicht! Großbritannien hat eine sehr positive Rolle bei der Entwicklung der EU gespielt.
Was war das dann, als die britischen Tories die EU zum Spielball interner Querelen gemacht haben? Aus europäischer Perspektive hat Großbritannien den Eindruck erweckt, dass man Europa vor allem als punching-ball missbraucht.
Und wie lautet jetzt Ihre Frage?
Die Frage lautet: Wie will Großbritannien das Image des Scheidungs-Falls, der in der EU alle nervt, jemals wieder loswerden?
Jetzt sind wir in der schwierigen Verhandlungsphase. Aber so schwarz-weiß ist die Sache ja auch wieder nicht. Vergessen Sie nicht, dass viele Leute in der EU – aber auch in Großbritannien – nicht für den Brexit sind. Aber eine Mehrheit in Großbritannien war für den Brexit und deshalb gibt es den jetzt. Und wir müssen schauen, wie wir den Brexit so organisieren können, dass das für beide Seiten positiv ist. Auf der anderen Seite: Wenn es von Seiten der EU-Kommission Herausforderungen und Hürden gibt, die für Großbritannien unmöglich zu akzeptieren sind, dann muss Großbritannien zu so einem Brexit nicht unbedingt und in jedem Fall einfach "ja" sagen. Also muss so verhandelt werden, dass es zu einer guten, fairen Lösung kommt. Das ist das Ziel beider Seiten.
Was sagen Sie zum Verlust der Soft-Power von Großbritannien? Der frisch gewählte US-Präsident Joe Biden wird in Berlin oder Paris anrufen, wenn er mit den Europäern etwas zu besprechen hat – und nicht mehr in London.
Großbritannien ist immer ein sehr starker Verbündeter der USA gewesen – daran wird sich nichts ändern. Wir arbeiten seit vielen Jahrzehnten sehr eng mit allen Vertretern der Vereinigten Staaten zusammen, egal wer als Präsident an der Macht ist – und so wird es auch bleiben. Es gibt diesen bekannten Spruch von Henry Kissinger, der gesagt haben soll: "Wen rufe ich an, wenn ich Europa ans Telefon bekommen will?" Die Amerikaner werden weiterhin eine ganze Reihe von Telefonnummern haben: Berlin, Paris, Rom, Madrid, Warschau, Wien und viele andere – und eben auch London. Zweitens wird Großbritannien als wichtiger Nachbar der EU weiterhin eine sehr bedeutende Rolle spielen. Die Sicherheitszusammenarbeit wird sehr eng bleiben, ob das nun geheimdienstliche Aktivitäten oder militärische Zusammenarbeit betrifft.
Großbritannien war im Irak-Krieg 2003 der wichtigste Partner der USA. In einem Krieg, der die Sicherheitslage in Europa deutlich verschlechtert hat. Und Großbritannien hat sich an einem Krieg beteiligt, der gegen den Willen Frankreichs und Deutschland geführt worden ist.
Großbritannien ist und bleibt ein wichtiger Nachbar der EU und wir sind bereit, weiterhin eine wichtige Rolle zu spielen – ob nun innerhalb oder außerhalb der EU. Das haben wir immer klargemacht, ohne Vorbehalte. Bei der Terrorbekämpfung haben die britischen Behörden EU-Ländern immer sehr viel mehr an Informationen übermittelt, als wir jemals von EU-Ländern bekommen haben. Wir sind bereit, diese Zusammenarbeit weiter zu intensivieren und noch weiter auszubauen, auch wenn Großbritannien die EU verlässt.
Der Brexit macht Großbritannien als Investitionsstandort nicht gerade attraktiver.
Großbritannien ist weiterhin ein Magnet für Investitionen – auch aus Österreich. Wir haben eine lange Liste von Firmen, die im Laufe der letzten paar Monate entschieden haben, in Großbritannien zu investieren, z.B. bei Valneva – einem Unternehmen, das in Schottland Impfstoffe herstellt. Der Spanplattenhersteller Kronospan, der Vorarlberger Plastikhersteller Alpla – das sind nur zwei der Unternehmen, die derzeit in Großbritannien Arbeitsplätze schaffen. Großbritannien bleibt mit seinen 67 Millionen Einwohnern und einem Durchschnittseinkommen, das durchaus mit Österreich vergleichbar ist, weiter ein interessanter Markt. Und das wird sich nicht schnell ändern.
Ich war vor kurzem in der Steiermark, bei Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer. Die Steiermark ist ein wichtiger Exporteur nach Großbritannien, vor allem für Autozubehör. Das neue Elektroauto von Jaguar, der i-pace wird sogar zur Gänze in Graz produziert. Den werden wir übrigens für die Botschaft kaufen – die Botschaften gehen, was den Klimaschutz angeht, mit gutem Beispiel voran. Für die Steiermark, für Oberösterreich, für Vorarlberg – für ganz Österreich ist es vorteilhaft, wenn man weiter ohne große Probleme nach Großbritannien exportieren kann. Ein vernünftiger Brexit-Deal zwischen der EU und Großbritannien ist also auch im Interesse der österreichischen Wirtschaft.
Für Großbritannien ist ein möglichst barrierefreier Zugang zur EU aber viel wichtiger: Die EU hat 450 Millionen Einwohner. Die Machtbalance zwischen der EU und Großbritannien ist also einigermaßen unausgewogen. Am Ende hat sich London sogar dazu hinreißen lassen, völkerrechtlich bindende Verträge zu brechen.
Ich glaube nicht, dass es einen Vertrauensverlust gibt. In den vergangenen Monaten sind die Wogen hochgegangen – das ist bei solchen Verhandlungen durchaus nicht ungewöhnlich. Am Ende wird man wieder freundschaftlich zueinander finden. Ich bin davon überzeugt, dass Großbritannien nach wie vor sehr hohes Ansehen genießt. Wenn Sie sich das Verhalten von Großbritannien innerhalb der EU in den letzten 40 Jahren anschauen, dann werden Sie feststellen, dass Großbritannien immer die Regeln eingehalten hat. Wir sind ein starker Befürworter des internationalen Rechts und wir unterstützen z.B. den International Criminal Court. Unsere Richter haben beim Aufbau einer internationalen Rechtsordnung eine tragende Rolle gespielt. Ein weiterer Punkt – weil Sie meinten, die Soft Power Großbritanniens stünde auf dem Spiel: Großbritannien hat 18 der besten 100 Universitäten der Welt. Wir haben 480.000 ausländische Studentinnen und Studenten an unseren Universitäten, 140.000 davon kommen aus der EU, 120.000 aus China, 30.000 aus Indien – Tendenz stark steigend. Auf dem Ranking der Herkunftsländer ausländischer Studierender in UK stehen China, Indien, USA, Malaysia und Hongkong ganz oben. Diese Länder entsenden die meisten Studierenden. Auch so etwas schafft Vertrauen und trägt zu Großbritanniens Soft Power bei. Ein anderes Beispiel: Die Einwanderungspolitik. Die ist viel liberaler, als viele in der EU denken. So können Studentinnen und Studenten bis zu zwei Jahre, nachdem sie ihr Studium oder ihre Doktorarbeit abgeschlossen haben, im Land bleiben. Wenn sie eine Arbeit finden, können sie so lange bleiben, solange sie einen Job haben. Großbritannien ist auch im Bereich der Forschung und Entwicklung eine Großmacht. Früher gab es eine bestimmte Zahl von Visa für Top-Wissenschaftler. Diese Obergrenze ist nun ebenfalls abgeschafft worden. Die Regierung hat sich auch dazu entschieden, Hong Kong-Chinesen, die einen britischen Pass haben, zu ermöglichen, dass sie in Großbritannien ansässig werden. Das alles zeigt: Großbritannien bleibt ein sehr offenes Land. Ein Land, das auch weiterhin eine wichtige Beziehung zu Europa haben will. Aber auch ein Land, das sich für Beziehungen zu anderen Ländern interessiert.
In Schottland ist man sehr unglücklich über den Brexit. Wie sollte Europa sich verhalten, wenn Schottland eine Zukunft in der EU – unabhängig von Großbritannien – anstrebt?
Das ist eine Angelegenheit Großbritanniens. Im Moment wird die Unabhängigkeit Schottlands wieder sehr aktiv diskutiert. Aber wir hatten 2014 ein Referendum und die Frage wurde damals klar beantwortet: 55 Prozent waren für einen Verbleib im Vereinigten Königreich. Nun gibt es Stimmen, die sagen, die Lage hat sich nach dem Brexit grundlegend gewandelt, es soll nun ein zweites Referendum geben. Andere sagen, dieses Referendum sollte diese Frage eigentlich für eine ganze Generation beantwortet haben. Man kann nicht alle Jahre oder alle fünf Jahre abstimmen, bis man das Ergebnis bekommt, das man möchte. Premier Boris Johnson hat bisher jedenfalls signalisiert, dass er nicht bereit ist, ein neues Referendum zu erlauben. Aber zurück zur Frage, wie sich Europa verhalten sollte: Wenn es um Katalonien geht, um das Baskenland, Korsika oder andere Regionen, dann ist man in Brüssel stets der Meinung, dass das innere Angelegenheiten der Nationalstaaten sind. Ich denke, dass das in diesem Fall genauso sein wird.
Ein weiteres Problem für London könnte Nordirland werden. Durch die Insel Irland verläuft die einzige Landgrenze der EU mit Großbritannien. Fürchten Sie ein Wiederaufflackern der "Troubles"?
Für London hat das Karfreitagsabkommen absolut Priorität. Es darf keine neuen Grenzen zwischen Nordirland und der Republik Irland geben. Großbritannien wird alles tun, um das zu verhindern. Es gibt Verhandlungen einer Nordirland-Sonderkommission, die abseits der Hauptverhandlung über die zukünftige Beziehung zwischen Großbritannien und der EU zwischen Lord David Frost und dem EU-Chefverhandler Michel Barnier stattfinden. Diese Diskussionen laufen sehr gut. Am Ende müssen alle Seiten in Nordirland und Irland mit der gefundenen Lösung einverstanden sein.
Es ist äußerst wichtig, dass alle Teile der Gesellschaft in Nordirland, vor allem die beiden größten Teile der Gesellschaft dort, Zuverlässigkeit in den Verhandlungen haben. Und wenn wir in diesem Bereich eine Lösung bekämen, mit der ein Teil der Bevölkerung nicht einverstanden wäre, wäre das ein Problem. Aber im Moment sind wir nicht in dieser Situation.
Herr Botschafter, eine Frage, die sich viele Europäer stellen: Worin liegt eigentlich der große Vorteil des Brexit für Großbritannien?
Also diese Debatte hat sich erledigt. Eine Mehrheit der Briten hat sich für den Brexit entschieden und der ist jetzt geschehen. Diese Frage müsste man heute wohl besser in einem Pub bei einem Bier besprechen und nicht in einem Interview.
Wenn der Brexit eine kluge und weise Entscheidung des britischen Volkes war – und wer zieht schon die Entscheidungen des Souveräns in Zweifel – dann müssten Sie doch jetzt sagen können: Zack! Zack! Zack! Das sind die tollen Brexit-Vorteile für Großbritannien! Oder war der Brexit vielleicht doch eine törichte Idee?
Ich kann Ihnen verraten, dass die Meinungen zum Brexit sich in Großbritannien nicht grundlegend verändert haben. Und das, obwohl es eine sehr aktive Diskussion – innerhalb von Labour und in der konservativen Partei gegeben hat. Ende 2019 gab es eine Unterhaus-Wahl und jene Partei, die eine klare Pro-Brexit-Linie vertreten hat, hat die Wahl haushoch gewonnen.
Vergangene Woche hat mich jemand gefragt: Was wäre, wenn kein Free Trade Agreement zwischen der EU und Großbritannien zustande kommt? Würden die Menschen das nicht als Desaster sehen? Ich habe geantwortet: Nein, nicht wirklich. Die Leute wollen schon ein Freihandelsabkommen – weil sie glauben, dass das die beste Lösung ist. Aber sie wollen das Freihandelsabkommen nicht um jeden Preis. Sie dürfen auch eines nicht vergessen: Im Moment drehen sich die Debatten in Großbritannien um Covid-19, und weniger um den Brexit.
Wenn man der Meinung war, dass der Brexit keine wirklich brillante Idee war, dann sieht der Brexit nach der Wahlniederlage von Donald Trump nach einem noch schlechteren Plan aus. Schon-bald-Ex-US-Präsident Donald Trump hat Boris Johnson in Sachen Brexit immer angefeuert, nun sitzt in wenigen Wochen ein Mann mit irischen Hintergrund im Weißen Haus, der ein ausgewiesener Freund der EU ist und der es mit einem Handelsabkommen mit Großbritannien nicht allzu eilig hat.
Ich glaube nicht, dass der Präsident der Vereinigten Staaten wirklich eine sehr große Rolle dabei spielt, ob Großbritannien ein gutes Freihandelsabkommen mit den USA bekommt oder nicht. Denn die Interessen beider Länder bleiben dieselben. London wird natürlich alles tun, um ein gutes Freihandelsabkommen mit Washington auszuhandeln.
Wie tröstet Boris Johnson eigentlich die vielen bitter enttäuschten Investoren? Japan hat viele Milliarden Pfund in Großbritannien investiert in der Hoffnung, dass man von dort den europäischen Markt bearbeiten kann. Nun stellen nicht nur die Japaner fest, dass man wohl besser in Mitgliedsländern der EU-27 wie Deutschland, Frankreich, Spanien, der Slowakei oder Österreich hätte investieren sollen.
Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Exporteure auf ein gutes Ergebnis in diesen Verhandlungsrunden, die jetzt stattfinden, hoffen können. Aber Großbritannien ist selbst ein ziemlich großer Markt. Die meisten der österreichischen Unternehmen, die dort investiert haben, haben das getan, um am britischen Markt erfolgreich zu sein. Zudem gibt es Unternehmer aus aller Welt, die in Großbritannien investieren, weil Großbritannien – und im speziellen London – ein gewisses Ambiente und ein gewisses Umfeld bietet, das man anderswo in Europa nicht findet. Denken sie an die Londoner City: Zwischen 2016 und 2019 hat sich der Anteil von Devisen, die dort gehandelt werden, von 38 Prozent auf 43 Prozent gesteigert. Gleichzeitig ist dieser Handel in New York von 20 auf 17 Prozent gesunken. Der Anteil des weltweiten Handels von außerbörslichen Derivaten ist in London von 38 auf 50 Prozent gewachsen. London ist eine Global City: Wenn ein Unternehmen also in Österreich oder in Europa an die Grenzen des Wachstums gestoßen ist, dann ist es in der Vergangenheit immer wieder der Fall gewesen, dass eine solche Firma ein Hauptquartier oder ein R&D-Center in Großbritannien etabliert hat. Man kann dann von dort in die ganze Welt expandieren.
Sie haben in diesem Interview leidenschaftlich die Argumente von Leuten vorgebracht, die gegen den Brexit waren und bis heute sind. Und es stimmt ja: Es gibt viele Leute, die gegen den Brexit sind. Aber die Briten haben abgestimmt. Und sie waren eben mehrheitlich für den Brexit. Das müssen die Brexit-Gegner in Großbritannien, aber auch unsere europäischen Freunde verstehen.
Glauben Sie wirklich, dass die Europäer es hinnehmen werden, dass der Finanzplatz London der wichtigste Ort im Euro/Dollar-Devisen-Handel bleibt? In Frankfurt bei der EZB kann niemand ein europäisches Singapur vor der Küste Frankreichs, Belgiens, der Niederlande und Irlands wollen.
Ich wiederhole mich: Das ist doch kein Nullsummenspiel! Das kann doch eine sehr positive Sache für Gesamteuropa sein, wenn auf dem Kapitalmärkten in London auch weiterhin sehr aktiv gehandelt wird. Es muss nicht sein, dass man ein Business von London nach Frankfurt absaugt. Je besser die Geschäfte in der Londoner City laufen, desto besser laufen sie in der EU.
Damit das funktionieren kann, müsste sich die Londoner City völlig den Regularien der Europäischen Finanzbehörden und der EZB unterwerfen.
Schatzkanzler Rishi Sunak hat gerade neue Regelungen auf den Weg gebracht, damit bestimmte Trades aus Europa weiterhin über London abgewickelt werden können, ohne auf Reziprozität der EU zu warten. Sunak glaubt, dass beide Seiten davon profitieren können.
Frankfurt, Paris, Amsterdam, Dublin – diese Finanzplätze bieten sich als Alternativen an.
Mag sein. Man wird sehen. Ich erinnere mich gut an die Argumente, als der Euro ohne britische Teilnahme eingeführt worden ist. Auch damals ist London totgesagt worden. Aber seither ist die Londoner City sehr viel stärker geworden. Frankfurt ist eine wunderschöne Stadt...
... Wirklich? Das haben sie sehr diplomatisch formuliert …
… aber es arbeiten in London mehr Menschen im Finanzdienstleistungssektor als Frankfurt Einwohner hat. Ich stimme Ihnen also nicht zu, dass der Brexit für London als Finanzdienstleistungszentrum ein Problem sein muss. London kann auch weiterhin eine wichtige Rolle in Europa und auch weltweit als Finanzdienstleistungszentrum spielen.
In welchen Bereichen kann die EU mit Großbritannien nach dem Brexit gut zusammenarbeiten?
Ich habe den Bereich der Sicherheitspolitik erwähnt, auch die Bildung. Auch wenn es im Endspurt der Verhandlungen – nicht zuletzt wegen des Getöses hart geführter Diskussionen – so aussieht, als gebe es ein frostiges Klima zwischen beiden Seiten, so ist die Realität doch eine andere. Beide Seiten wollen die besten Ergebnisse in diesen Verhandlungen erzielen. Die Verhandler wissen: Es ist nicht so, dass es gut für die EU ist, wenn es Großbritannien schlecht geht und umgekehrt auch nicht.
Können Sie sich vorstellen, dass Großbritannien irgendwann in Zukunft die Haltung gegenüber der EU wieder ändert? Immerhin hat die junge Generation mit überwältigender Mehrheit gegen den Brexit gestimmt.
Ich bin kein Hellseher. Junge Leute werden auch älter. Man wird sehen, wie die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien sich entwickeln. Je positiver diese Beziehungen sein werden, desto besser.
Der Brexit wird wirtschaftlichen Schaden anrichten, da sind sich alle Experten einig – und das, nachdem die Regierung von Boris Johnson in der Covid-19-Krise alles andere als überzeugend agiert hat, was auch auf die Konjunktur drückt. Wie wird die Regierung den wirtschaftlichen Schaden aus dem Brexit abfedern?
Nach dem Brexit-Referendum 2016 hieß es, dass viele EU-Bürgerinnen und Bürger sich in Großbritannien vielleicht nicht mehr so zuhause fühlen würden und zurück in ihre Herkunftsländer gehen werden. Es gibt auch einige Bürgerinnen und Bürgern der EU-27, die das getan haben. Aber tatsächlich ist die Zahl der EU-Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien sogar gestiegen. Als wir nach dem Brexit mit der Registrierung der EU-Bürgerinnen und -Bürger begonnen haben, haben wir damit gerechnet, dass sich 3,5 Millionen Menschen aus den EU-27 registrieren würden. Großbritannien ist ja nicht so eine stark reglementierte Gesellschaft, wir wissen gar nicht so genau, wie viele EU-Bürgerinnen und -Bürger vor dem Brexit in unserem Land gelebt haben. Bisher haben 4.080.000 Menschen versucht sich zu registrieren, 3,9 Millionen Registrierungen waren bisher erfolgreich. 16.000 Österreicherinnen und Österreicher haben sich bisher angemeldet, 15.360 wurden bisher erfolgreich registriert – kein einziger ist abgewiesen worden. Warum erwähne ich das? Vier Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger haben mit ihren Füßen darüber abgestimmt, dass sie Hoffnung in eine Zukunft in Großbritannien und damit auch Hoffnung für eine Zukunft für Großbritannien haben. Es kann also in Großbritannien auch nach dem Brexit nicht furchtbar oder hoffnungslos sein.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle auch ein Dankeschön an die österreichischen Behörden. In Wien wurde ein Gesetz verabschiedet, dass die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens, die in Österreich leben, das auch weiterhin tun können. Mein Dank gilt nun dem österreichischen Innenministerium und den Behörden in den Bundesländern, die diese Politik umsetzen. Ungefähr 11.000 Briten arbeiten und wohnen in Österreich, davon sind ungefähr 10 Prozent in Rente. Wir waren in sehr engem Kontakt mit den Behörden und ich bin sehr optimistisch, dass die Registrierung dieser Bürgerinnen und Bürger ohne Probleme ablaufen wird. In schwierigen Covid-19-Zeiten ist das natürlich eine Herausforderung.
Wie werden sich die bilateralen Beziehungen zwischen Großbritannien und Österreich weiterentwickeln?
Ich hoffe, dass die Beziehungen zwischen Großbritannien und Österreich weiterhin wachsen werden. Sie sind im Moment sehr gut. Wir hatten in den vergangenen fünf Jahren exzellente politische Kontakte. Premierministerin Theresa May war zweimal hier, Premier David Cameron war auch in Wien. Ich habe das Privileg, dass ich zu führenden Figuren in Österreich auf allen Ebenen gute Kontakte habe. Das ist wunderbar für mich als Botschafter, dass diese Kontakte da sind. Also danke an alle – Sie wissen, wer Sie sind! Die weiteren Beziehungen haben großes Potenzial: Die österreichische Wirtschaft ist sehr stark, sehr gut organisiert, sehr exportfähig und sehr investitionsfreudig. Wir haben sehr viele Erfolge in beiden Richtungen verbuchen können. 40.000 Arbeitsplätze in Großbritannien sind durch 250 österreichische Firmen entstanden. Tendenz wachsend. In umgekehrter Richtung haben britische Unternehmen rund 13.000 Arbeitsplätze in Österreich geschaffen. Österreich ist im Exportwettbewerb mit Großbritannien klar im Vorteil. Österreichische Unternehmen exportieren mehr zu uns als wir zu ihnen. Auch hier zeigte sich eine Wachstumstendenz. Die Bedeutung der Bildungs- und Wissenschaftszusammenarbeit habe ich bereits erwähnt. Ich stehe in ständigem Kontakt zu österreichischen Universitäten. Ich war letzte Woche in Graz und in Klagenfurt, um die dortigen Universitäten zu besuchen. Davor war ich in Linz und Salzburg und an der Universität Innsbruck. In allen diesen Fällen gibt es sehr starke Beziehungen zu britischen Universitäten. Man sagt nicht umsonst: In der Jugend liegt die Zukunft. Für mich hat der Ausbau dieser universitären Kontakte weiter Priorität. An der Universität Innsbruck gibt es etwa das BritInn, das "Academic Network Britain-Innsbruck", das dafür zuständig ist, die Beziehungen zwischen der Universität Innsbruck und britischen Universitäten weiter auszubauen. In Innsbruck forscht die engagierte Wissenschaftlerin Gina Moseley, die Klimaforschungen in Grönland betreibt, aber ihre Basis in Innsbruck hat. An der Johannes-Kepler-Universität in Linz gibt es eine interessante Zusammenarbeit mit dem Imperial College London, da geht es um Kooperation zum Thema künstliche Intelligenz.
In der Sicherheitspolitik gibt es ebenfalls eine sehr gute Zusammenarbeit: Wir haben beste Verbindungen zwischen unseren Sicherheitsbehörden und den Sicherheitsbehörden in Österreich und wir sind bereit, weiterhin Informationen auszutauschen, z.B. über den Hintergrund zum Terroranschlag, der vor wenigen Wochen in Wien verübt worden ist. Seit Jahrzehnten kommen außerdem Angehörige der britischen Streitkräfte zu Trainings nach Österreich, hauptsächlich ins Hochgebirge. Das wird es auch weiterhin geben.
Sprechen wir noch über Geopolitik: Pro-Demokratie-Aktivisten in Hong Kong sehen sich immer größeren Druck von Seiten der Volksrepublik China ausgesetzt. Großbritannien hat 1997 Hongkong an China zurückgegeben. Wie sieht man in London die Politik Pekings gegenüber Hongkong?
Ich selbst war 1997 in der Hongkong-Abteilung des Foreign Office in London und habe lange Gespräche mit meinen chinesischen Kollegen über die Zukunft Hongkongs geführt. Es gibt einen Vertrag, der die Zukunft Hongkongs für die nächsten 50 Jahre – also ab 1997 – regeln sollte. Großbritannien hat sich sehr besorgt über die jüngsten Geschehnisse in Hongkong ausgedrückt, über den Rücktritt von Abgeordneten des Legislative Councils, über die Einschränkungen von Freiheiten. Das haben wir auf höchster Ebene verurteilt.
Wie sieht Großbritannien den Aufstieg Asiens?
Wir beobachten nicht nur den Aufstieg Chinas, sondern wir sehen auch, dass Länder wie Indien, Pakistan oder Indonesien in Zukunft eine sehr viel größere Rolle spielen werden. Ich finde, das ist großteils eine gute Sache. In all diesen Ländern ist es gelungen, die Armut zurückzudrängen. Es gibt immer noch viel zu viele Menschen in Asien und Afrika, die in bitterster Armut leben müssen, aber es sind viele Fortschritte in der Armutsbekämpfung in diesen Regionen gelungen. Das ist für unsere Welt und für die Menschheit eine sehr positive Entwicklung. Großbritannien und Europa müssen mit diesen Ländern viel engere politische und wirtschaftliche Beziehungen knüpfen, denn diese Länder werden in Zukunft auf der globalen Bühne eine sehr wichtige Rolle spielen. Ich habe in unserem Gespräch bereits die Bedeutung der britischen Universitäten für die Soft-Power Großbritanniens erwähnt. Ich habe über die 120.000 chinesischen Studenten an britischen Universitäten gesprochen. Es gibt aber ungefähr 690.000 Studenten, die im Ausland an britischen Universitäten studieren. Viele unserer Top-Universitäten haben sehr erfolgreiche Zweig-Unis gegründet. Das ist ein preiswerterer Weg, wie man ein eine britische Bildung bekommen kann, ohne nach Großbritannien zu fliegen, um dort drei oder vier Jahre zu leben und zu studieren.
Großbritannien hat den Vorsitz bei COP-26, der sogenannte "Conference of Parties", besser bekannt als "Klimakonferenz". Sie hätte eigentlich im November in Glasgow stattfinden sollen und wurde aber auf November 2021 verschoben und wird nun gemeinsam mit Italien ausgerichtet. Welche Rolle will Großbritannien in der Klimapolitik spielen?
Ich habe zuvor von den Wachstumschancen in Asien gesprochen: Wachstum bringt Wohlstand, aber wir brauchen in Zukunft nachhaltiges Wachstum. Wenn die Nachfrage nach Elektrizität mit Kohlekraftwerken gedeckt wird, wenn der Fleischkonsum immer mehr ansteigt, wenn der Ressourcenverbrauch weiter zunimmt, dann haben wir ein Problem. Und wir haben schon jetzt eines. Deshalb ist es entscheidend, dass alle zusammenarbeiten, um ambitionierte Klimaziele zu setzen und auch hart daran arbeiten, dass wir diese erreichen. Großbritannien arbeitet in der Vorbereitung von COP-26 sehr eng mit vielen Ländern zusammen – darunter auch Österreich –, um die nationalen Ziele so ambitioniert, so ehrgeizig wie möglich zu machen. China hat sich dazu verpflichtet, bis 2060 klimaneutral sein zu wollen. Das ist erst in 40 Jahren, aber das ist dennoch ein sehr wichtiges Ziel, das China sich gesetzt hat. Japan hat sich das Ziel für 2050 gesetzt. Die COP-26-Konferenz biietet nun eine einzigartige Möglichkeit, um weitere Fortschritte zu machen. Die Tatsache, dass ich für die Botschaft in Wien ein Elektroauto bekommen werde, ist ein symbolischer Beitrag. Was wir zeigen wollen ist: "We put our money, where our mouth is", wie man auf Englisch sagt. Nicht nur reden, sondern handeln. Dazu gehört auch, dass das Foreign Office Instruktionen erteilt hat, unsere Botschaftsflotten so grün und nachhaltig zu machen, wie möglich. Für die nächsten 12 Monate wird COP-26 übrigens einer meiner wichtigsten Arbeitsbereiche sein.
Glauben Sie, dass sich das Bewusstsein zuletzt gewandelt hat: Einerseits war da "Fridays for Future", andererseits hat wohl auch die Pandemie dazu beigetragen, den Menschen zu verdeutlichen, dass die Menschheit nicht Herrscher über die Natur ist, sondern Teil der Natur.
Es kann gut sein, dass dieser Bewusstseinswandel sich beschleunigt. Aber ich will realistisch bleiben: Klima-Verhandlungen sind nie einfach, weil es muss letztlich entschieden werden, wie CO2 abgebaut werden kann und soll. Da gilt es viele Detailprobleme zu lösen: Wie kann man klimafreundliche Technologien fördern? Wie reduziert man am effizientesten CO2-Emissionen? Wer bezahlt die Kosten der Energiewende? Ich würde nicht sagen, dass die Klärung all dieser Fragen einfach sein wird und deshalb spielt Großbritannien so eine aktive Rolle. Aber ich bin optimistisch: Die Lage in vielen Staaten hat sich verändert. Da spreche ich gar nicht von den USA, sondern es hat sich die Stimmung in China gewandelt und das birgt Hoffnung für die ganze Welt. Hoffen wir also, dass die COP-26-Verhandlungen in Glasgow 2021 erfolgreich sein werden.
Herr Botschafter Turner, ich danke für das Gespräch.
Leigh Turner ist seit 2016 britischer Botschafter in Österreich. Davor war er Botschafter in der Ukraine und Generalkonsul in Istanbul. Turner war zu Beginn seiner Diplomatenkarriere einige Jahre für das Foreign Office in Wien tätig – von 1984 bis 1987 – und ist ein sehr guter Kenner Österreichs.