Durchbruch bei Finanzstreit. | Gespräche mit der Türkei und Kroatien. | Einigung bei Zucker, Rufdaten und Chemikalien. | Brüssel. (apa) Bis vor Kurzem schlugen Premier Tony Blair kaum Sympathien aus Brüssel und den anderen EU-Staaten entgegen. Die britische EU-Ratspräsidentschaft musste sich massive Kritik an ihrer Vorsitzführung gefallen lassen. Zu unambitioniert, zu wenig europäisch, zu sehr an eigenen Interessen orientiert, lauteten die Vorwürfe. Doch mit dem beim Dezember-Gipfel erzielten Durchbruch im EU-Finanzstreit hat Blair nicht nur das Schlimmste verhindert. Am Ende fällt die Bilanz seiner Ratspräsidentschaft erfolgreicher aus als ursprünglich erwartet.
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Anfang des Monats sah es tatsächlich noch so aus, als könnte heuer kein einziges großes EU-Dossier mehr abgeschlossen werden, abgesehen vom Start der Beitrittsgespräche mit der Türkei. Diese konnten - mit angehaltenen Uhren - planmäßig am 3. Oktober starten, nachdem Österreich eine stärkere Betonung der EU-Aufnahmefähigkeit erreichte und schließlich einlenkte. Ein positives Gutachten der UNO-Chefanklägerin Carla Del Ponte, das Kroatien "volle Zusammenarbeit" mit dem Haager Tribunal bescheinigte, machte auch den Weg für Verhandlungen mit Zagreb frei.
"Zwei gute Reden"
Nach dem Scheitern des Gipfels im Juni war Blair in keiner leichten Ausgangsposition, als er im Juli die Ratspräsidentschaft antrat. Wegen seiner Ablehnung des damaligen Luxemburger Budgetvorschlags wurde er von seinen Kollegen für die verschärfte Krise in der EU hauptverantwortlich gemacht. Seinen ersten Auftritt im Europaparlament meisterte Blair rhetorisch mit Bravour, als er sich als "engagierter Europäer" bezeichnete und ein flammendes Plädoyer für Modernisierung und Reformen in Europa abgab.
Als Blair sich Ende Oktober zum zweiten Mal vor den Straßburger Abgeordneten zeigte, fielen die Kommentare schon viel kritischer aus. "Zwei gute Reden machen noch keine erfolgreiche Ratspräsidentschaft", meinte etwa der ÖVP-Parlamentarier Othmar Karas. Er hatte zuvor eine scherzhafte Vermisstenanzeige unter dem Motto "Gesucht wird der europäische Ratspräsident - ein gewisser Tony Blair" aufgegeben - und damit vielen aus der Seele gesprochen.
Sein Versprechen nach einer umfassenden Reform des EU-Haushaltes löste Blair nicht ein. "Es ist nicht das ideale Budget, aber das Beste, das wir jetzt erreichen konnten", verteidigte er selbst den Deal - und in diesem Punkt stimmt ihm sogar die EU-Kommission zu, die um 160 Milliarden Euro mehr verlangt hatte. Die von London kritisierten Agrarausgaben machen mit 43 Prozent weiterhin den Löwenanteil des 862 Milliarden Euro schweren Budgets für 2007 bis 2013 aus, während zusätzliche Förderungen für die Forschung nicht durchgesetzt wurden. Auch beim Briten-Rabatt musste Blair einlenken.
Nächste Erweiterung
Bei der EU-Erweiterung konnte London viel bewegen. Neben Kroatien kamen auch andere südosteuropäische Staaten einer Mitgliedschaft in der Union näher: Mazedonien erhielt den Kandidatenstatus, mit Serbien-Montenegro und Bosnien-Herzegowina eröffnete die EU Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen.
Unter britischem Vorsitz erzielten die EU-Staaten auch eine Einigung auf die neue Chemikalienverordnung, die rund 30.000 Stoffe erfassen wird. Die Argraminister einigten sich auf eine radikale Neuordnung der fast 40 Jahre bestehenden Zuckermarktordnung.
Im Dezember verabschiedeten die Innenminister und das EU-Parlament die Telekom-Datenspeicherung, die Großbritannien nach den islamistischen Terroranschlägen auf die Londoner U-Bahn im Sommer ein besonderes Anliegen war. Der jahrelange Streit um die einheitliche EU-Maut für Lkw wurde noch vor Jahresende abgeschlossen.
Wenn sich auch die Briten selten für Europa erwärmten - mit kühlem Pragmatismus haben sie die EU in einer vertrackten Situation durchaus weitergebracht.