In einigen ehemaligen Labour-Zentren ist der Zorn auf die Partei groß.
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London. Weitab von Westminster, rund 400 Kilometer die Küste hinauf, liegt Hartlepool. Welten liegen zwischen der Stadt, die befürchtet, ihre beste Zeit hinter sich zu haben, und dem Sitz des britischen Parlaments, das am 8. Juni neu gewählt wird. "Die haben doch keine Ahnung, was uns bewegt", meint ein Hafenarbeiter. "Aufschwung? Höhere Löhne? Bessere Krankenhäuser? Alles leere Versprechen", sagt ein anderer. "Am besten wählt man gar nicht mehr."
Mit Sorge schaut die Labour Party nach Hartlepool, auf eine ihrer Bastionen im ehemals tiefroten Industriegebiet Nordenglands. Erstmals seit mehr als einem halben Jahrhundert droht der Wahlkreis an die Konservativen zu gehen - wie auch ein halbes Dutzend anderer in der Region. Tausende von Working-Class-Hartlepoolern, deren Vorfahren stets Labour gewählt hatten, erwägen nun, zuhause zu bleiben oder gar zur "Gegenseite" überzulaufen. Viele glauben, dass nur Premierministerin Theresa May einen "klaren Brexit" garantiert. Immerhin haben hier 70 Prozent für den EU-Austritt gestimmt.
Bei der Unterhauswahl vor zwei Jahren kam die Anti-EU-Partei Ukip sogar auf 28 Prozent und landete hinter Labour auf dem zweiten Platz. Schon damals waren traditionelle Labour-Wähler en masse nach rechts geschwenkt, ins Protestlager.
Bereits in den 1960er Jahren war der Schiffsbau in der Stadt eingebrochen. Hartlepool teilte das Schicksal vieler Gebiete im "postindustriellen" England. Mit der Austeritätspolitik sackte die Region endgültig in die Hoffnungslosigkeit ab. Die Menschen sorgt der Anstieg der Kriminalität oder die Schließung der Notaufnahme ihres Krankenhauses. Jeder Zehnte ist ohne Job.
Was jetzt zum Stimmungsumschwung führe, sei "eine Mischung aus harscher Rezession und Austerität, aus kümmerlicher Politik und kommunalpolitischem Versagen", erklärt es der frühere Hartlepool-Abgeordnete der Labour Party, Peter Mandelson. Viel Zorn und "ein perfekt serviertes Protestangebot Ukips" hätten zum jüngsten Unmut beigetragen. Good Old Mandy sei ja wohl "die Treppe hochgefallen", spottet man indes in Hartlepool. Der EU-Kommissar der Blair-Ära, der nun im Oberhaus sitzt und einmal bekannte, es sei ihm "scheißegal", wie viel Reichtum privilegierte Briten haben, hat hier nicht viele Fans. Auch Parteichef Jeremy Corbyn mögen viele Labour-Stammwähler nicht besonders. Er repräsentiere doch nur die "metropolitane Clique im Süden", die Labour-Leute aus London kämen höchstens noch zu Wahlkämpfen nach Hartlepool.
Frustration bekunden viele auch über "rote Barone" wie Hartlepools Ex-Bürgermeister Stuart Drummond. Zentral ist nun, ob die 28 Prozent Ukip-Wähler von 2015 diesmal zu den Konservativen abwandern. Falls ja, könnte Hartlepool kippen - zumal, wenn ehemalige Labour-Wähler zuhause bleiben. Im Tory-Wahlbüro gibt man sich optimistisch: "Das schaffen wir. Labour ist hier am Ende." Dabei wäre in Hartlepool früher, schmunzeln Einheimische, selbst ein Affe gewählt worden, "solange er nur die Labour-Rosette trug". Tatsächlich hatte sich Ex-Mayor Drummond für seine Wahl zum Bürgermeister in ein Affenkostüm gezwängt - das Maskottchen des örtlichen Fußballklubs.
Der neue Träger des Affenkostüms, ein Mann namens Michael Evans, hat angekündigt, er werde diesmal für die Konservativen stimmen. In Hartlepool wählen jetzt sogar die Affen Tory-Blau statt Labour-Rot.
Cambridge: "Yez Jez" -oder Yes, Julian?
In der berühmten Uni-Stadt hoffen die europhilen Liberaldemokraten darauf, ein Zeichen zu setzen. Colleges und High-Tech-Sektor stemmen sich entschieden gegen die britische Abkoppelung von der EU. Es ist ein warmer Abend in den Gässchen von Cambridge. Studenten und Touristen ziehen fröhlich zwischen Märkten und Colleges durch die Stadt, am Markt unterhält ein Saxophon-Spieler die Gäste. Kommt man von Hartlepool, glaubt man sich auf einem anderen Stern. Cambridge blickt weltoffen und selbstbewusst in die Zukunft. Drei Viertel der Wähler haben hier für den Verbleib in der EU gestimmt.
Konservative und Ukip spielen in Cambridge keine große Rolle. Labour und die pro-europäischen Liberaldemokraten machen die Sache untereinander aus. Heute sind die Vorsitzenden der "progressiven" Parteien, Jeremy Corbyn und Tim Farron, in der Stadt. Im Senatsgebäude der Universität, in dem sonst feierlich Diplome ausgehändigt werden, findet eine BBC-Wahldebatte statt. Am Rande des von einer Polizeikette abgesperrten Geländes haben sich zur Unterstützung ihres Kandidaten vor allem junge Labour-Anhänger mit "Yez Jez!"-Plakaten eingefunden. "Jeremy ist der Einzige, der sich nicht einschüchtern lässt und für sozialen Wandel eintritt. Der keine Atomwaffen mehr bauen möchte", sagt eine von ihnen. Corbyn, fügt ihr schlaksiger Freund mit Bierfläschchen in der Hand hinzu, wolle "echte Veränderung". Er habe seine Prinzipien nie verraten, sondern halte an seiner Vision einer besseren Gesellschaft fest. Nicht alle sehen das so. Der Streit um den Brexit spaltet die Partei auch hier. Aufsehen erregte die Geschichte des örtlichen Weinhändlers Sam Owens, der bei den Unterhauswahlen von 2015 noch für Labour warb.
Als der eingefleischte EU-Gegner Corbyn sich dann aber beim bitteren Ringen um die weitere EU-Mitgliedschaft Großbritanniens zierte, trat Owens aus der Partei aus und bot den europhilen Liberaldemokraten seine Hilfe an. "Rückgratlos, kurzsichtig, schändlich, kläglich, idiotisch und tragisch" habe Corbyn sich in Sachen Brexit verhalten, schimpfte Owens. Ganz so würde es der örtliche Kandidat der Liberaldemokraten, Julian Huppert, nicht ausdrücken. Aber auch der Biochemiker, der schon von 2010 bis 2015 Abgeordneter von Cambridge war und den Sitz letztes Mal nur äußert knapp an Labour verlor, sieht im Streit um Europa eine Chance für seine Partei.
Mit der liberaldemokratischen Forderung nach einem Referendum zum Ergebnis der Austritts-Verhandlungen mit der Europäischen Union ist sich Huppert einig mit einem Großteil der Bürger. Das Fünftel der Wähler, das der Uni angehört, fürchtet vom Brexit Einbußen der eigenen Freizügigkeit in Europa, Rekrutierungsprobleme für den Lehrkörper und den Verlust gigantischer Summen für Forschungsvorhaben. Darüber hinaus haben sich in den letzten Jahrzehnten in Cambridge jede Menge Science Parks und High-Tech-Betriebe angesiedelt, die auf Mitarbeiter aus dem EU-Raum und auf reibungslose Handelsbeziehungen mit dem Kontinent angewiesen sind. "Silicon Fen", Silizium-Marschland, hat der Volksmund die Region Cambridge in Anlehnung an Kaliforniens "Silicon Valley" getauft.
Von der Autobahn M6 aus sieht man auf den Hügeln die Türme von Fort Dunlop. Eröffnet wurde die Gummireifenfabrik vor genau hundert Jahren. Damals war das Werk eine der größten Fabriken der Welt. Es war immer ein Symbol industrieller Stärke Großbritanniens. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeiteten hier 10.000 Menschen - bevor Import-Autos vom Kontinent das Geschäft zu unterhöhlen begannen. Längst ist das Unternehmen verkauft, "Urban Splash" hat das Gelände in ein Einkaufszentrum mit Hotel und Kleinbetrieben umgemodelt. Vor drei Jahren hat die Fabrik endgültig zugemacht.
Das Ende Dunlops brachte die soziale Katastrophe
Teile des Werks siedelten nach Frankreich und Deutschland um. Freundliche Gefühle für "die Europäer" hat das nicht aufgerührt. "Ist das verwunderlich?", fragt ein grauhaariger Lieferwagen-Fahrer namens Joe, der im MacDonalds um die Ecke von Fort Dunlop sein Sandwich verzehrt. "Hier haben auch die meisten für den Brexit gestimmt." In Birminghams Stadtteil Erdington, in dem Fort Dunlop steht, trauert man noch immer um diese britische Legende, um die Jobs, die mit ihr verloren gegangen sind. Denn für Erdington war das Ende Dunlops eine soziale Katastrophe. Im Lauf der letzten Jahre haben fast alle "guten" Geschäfte, die großen Namen, auf der High Street schließen müssen.
In Erdingtons alter Hauptstraße stößt man auf leer stehende Läden, auf karitative Sammelstellen, auf Billigmärkte. Pfandleihen gibt es alle paar Meter. "Es gibt viel Elend hier", sagt Judith, die für die hiesige St. Barnabas Church arbeitet. Früher war dies ein von Dunlop-Löhnen gespeistes attraktives und belebtes Viertel der zweitgrößten Stadt Englands.
Und heute: Fish-and-Chip-Stuben, Halal-Läden, afrokaribische Lebensmittel. Vier Prozent der Bewohner Erdingtons sollen Polen sein - aber viele sind nach dem Brexit-Beschluss wieder abgereist. Unzufriedene Bürger wollen den Zustrom an Immigranten begrenzt sehen. "Theresa May weiß, wie sie das machen muss", meint Joe, der Lieferwagen-Fahrer. "Die sagt den Europäern Bescheid." Früher habe er Labour gewählt, räumt er ein: "Aber der Corbyn taugt zu gar nichts."
Am Donnerstag dürfen auch die rund 10.000 in Österreich lebenden Britinnen und Briten ihre Stimme bei den Unterhauswahlen per Briefwahl oder durch die Nominierung eines Bevollmächtigten abgeben - vorausgesetzt, sie haben sich rechtzeitig registriert. Wahlberechtigt sind Briten, die nicht länger als 15 Jahre im Ausland leben und in dieser Zeit als Wähler im Vereinigten Königreich registriert waren.
Der Großteil der Briten in Österreich ist in Wien ansässig, gefolgt von Tirol und Niederösterreich. Laut der Medienservicestelle Österreich sind viele von ihnen in der Branche "Erziehung und Unterricht" tätig.
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