In "Stefan Rott oder das Jahr der Entscheidung" beschreibt Max Brod die Lebenskrisen eines Jugendlichen in den letzten Friedensmonaten des Jahres 1914.
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"Max Brod (1884-1958) war vor und nach dem Ersten Weltkrieg einer der bekanntesten Vertreter der Prager deutschsprachigen Literatur", heißt es im Klappentext zu dem Roman "Stefan Rott", erschienen in der Reihe "Max Brod - Ausgewählte Werke". Diese vom Wallstein Verlag betreute Reihe soll "ein uvre, das heute im Buchhandel nicht mehr und in Bibliotheken kaum zu finden ist, wieder einem Lesepublikum zugänglich machen". Dafür Dank und Lob. Denn diesem neu aufgelegten Roman gebührt das Prädikat "alt, aber gut".
Schauplatz Prag
Was das Alter betrifft, ist zu sagen: Erstveröffentlichung im Jahr 1931, die Handlung spielt in Prag, zur Endzeit der Habsburger Monarchie, knapp vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Was die Güte des Romans betrifft, ist zu sagen: Max Brod erweist sich hier als ein vorzüglicher, kraftvoll, bunt und anschaulich erzählender Autor mit doppelter Gestaltungsabsicht: Es geht ihm nicht nur um Menschenschicksale, sondern auch um deren Zusammenhang mit Lebenswünschen und Weltordnungen.
Zu diesem Zweck quartiert Brod sein Romanpersonal in ein abendländisches Gedankengebäude ein, durch das verschiedene Ideen und Ideale, Thesen und Dogmen, Programme und Projektionen geistern.
Die titelgebende Hauptfigur, der Septimaner Stefan Rott, wird in einem "Jahr der Entscheidung" (das sich tatsächlich auf nur sechs Monate beschränkt, beginnend im April 1914) mit der existenziellen Grundfrage konfrontiert, welches Leben man denn zu führen habe. Rott soll sich für die ihm zusagende, ihm entsprechende Lebensform entscheiden: für vita activa oder vita contemplativa, für die Hoffnung, die Welt verbessern zu können, oder für den Glauben, dass nur in der Weltabkehr die Seele Frieden findet.
Der siebzehnjährige Gymnasiast Stefan Rott steht noch in voller Pubertät und doch schon an der Schwelle zum Erwachsensein. Der die Entwicklung dieses "gesunden Jungen", welcher zwar bereits männliches Interesse an den Geheimnissen der Kunst und der Philosophie zeigt, dessen Emotionalität aber noch von knabenhafter Naivität bestimmt wird, mit gewissenhafter Sympathie protokollierende und psychologisch analysierende Erzähler Brod legt dabei die Grundidee des epischen Projekts offen: nämlich exemplarisch darzustellen, was die Kraft des alten platonischen Eros heute noch zu bewirken vermag.
Erotische Sehnsucht
Des Jünglings erotische Sehnsucht trifft den verehrten Religionslehrer Werder, den Schulfreund Anton und dessen verführerische Mutter Phyllis. Werder, 50, mit breitem Schädel, blassgrauen scharfen Augen, näselnd, ein rätselhafter Mann, bisweilen entrückend anmutend, oft jedoch zynisch oder sarkastisch, übt nicht zuletzt ob seines theologisch-philosophischen Wissens starken Einfluss auf Stefan aus. Werder hat schwere Schuld auf sich geladen, wofür er mit asketischer Bitterkeit Sühne leistet. Der katholische Büßer repräsentiert eine pessimistisch geschwärzte christliche Weltanschauung, welche die Welt aber gerade nicht anschauen darf, sondern verabscheuen muss. Denn "der Teufel ist der Herrscher der Erde", ruft Werder, und Heil gibt’s erst im Jenseits.
Anton hingegen, Stefans Klassenkamerad und gleich ihm aus gutbürgerlichem Elternhaus, steht mit jugendlicher Begeisterung unerschütterlich auf dem Boden sozialrevolutionärer Gesinnung. Nur das Proletariat, davon ist er absolut überzeugt, könne den neuen Menschen erschaffen. Anton macht Stefan mit einem Anarchistenklub bekannt, wo die Errichtung des Glücks für alle im Diesseits geplant wird. Phyllis schließlich, Antons nahezu mädchenhaft wirkende Mutter, die von zwei Männern (Kapitalisten!) ausgebeutet und erniedrigt wird, will nur ein wenig Trost, ein wenig Selbstachtung in der heimlich-zarten Liebesbeziehung mit Stefan finden.
Auch der Gymnasiast findet am Ende des entscheidenden Halbjahres etwas, nämlich heraus: "Es geht ein ungeheurer Riß durch die Menschheit . . . Die, welche helfen, verehren nicht. Und die, welche verehren, helfen nicht. Die Sozialisten schimpfen zwangsläufig auf Dunkelmänner vom Schlage Werders. Und den Werder-Menschen ist der platte materielle Sozialismus ein Greuel."
Die Lösung, die Rettung liegt in einer "Philosophie der Mitte", die es ermöglicht, dass "Werders Passivebene" und "Antons Aktivebene" gemeinsam die Basis der Lebensgestaltung bilden.
Max Brod: Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung. Roman. Mit einem Vorwort von Dževad Karahasan. Wallstein Verlag, Göttingen 2014, 562 Seiten, 30,80 Euro.