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Brok gegen automatische Erweiterung

Von Martin Sattler

Europaarchiv
Elmar Brok pr

Elmar Brok im WZ-Interview. | Kandidaten sollen EU-Werte anwenden. | "Wiener Zeitung":Wie beurteilen Sie die Aufnahmefähigkeit der EU?


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Elmar Brok: Die EU muss vor der Aufnahme neuer Mitglieder die Entscheidungsmechanismen verbessern; das ist das A und O und eine Frage der Solidarität. Die heutigen Regeln der Struktur- und Agrarpolitik würden im Falle der Türkei eine Verdopplung des deutschen Nettobeitrages bedeuten - oder kein Geld mehr für Polen und alles für die Türkei. Dafür sehe ich keine Mehrheit. Auch bei der Freizügigkeit für Arbeitnehmer ist die Größe der Türkei ein Problem.

Lässt sich Freizügigkeit nicht mit Übergangsfristen lösen?

Bisher ja. Wenn aber die Türkei in 15 Jahren 100 Millionen Einwohner hat, ist es fraglich, ob man in Anatolien solche wirtschaftlichen Chancen schaffen kann, dass die Leute dann zu Hause bleiben - wie das in bisherigen Erweiterungsrunden passiert ist.

Wo sehen Sie die Grenzen der Europäischen Union?

Religiöse oder regionale Grenzen sind hier kein Thema. Ausschlaggebend sind die gemeinsamen Werte. Wer zum Beispiel die Charta der Grundrechte voll und ganz anwendet, in der Praxis lebt und nicht nur übernimmt, kann der Union angehören. Auf der anderen Seite muss auch die EU aufnahmefähig sein. Wir werden im Laufe des Prozesses sehen, ob die Türkei wirklich überzeugen kann. Ich habe hier meine Zweifel.

Welche Alternativen zum Beitritt neuer Länder sehen Sie?

Wir sollten einen neuen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit geänderten politischen Akzenten entwickeln. Einen multilateralen Verband für alle Staaten, die nicht in den nächsten zehn Jahren Mitglieder der EU werden wollen, können oder sollen. Diese könnten aber bis zu 70 Prozent des Acquis Communautaire übernehmen. Danach können beide Seiten entscheiden, ob eine Mitgliedschaft in Frage kommt oder der Status beibehalten wird. Das ist auch für die EU von Vorteil. Denn wie soll die Union aus heutiger Sicht mit 35 Mitgliedern fertig werden? Das kann nicht funktionieren. Ich bin auf jeden Fall gegen einen Automatismus bei der Erweiterung, ohne dass sich Europa weiterentwickelt. Das zerstört die EU.

Wie wird die neue deutsche Kanzlerin Angela Merkel die Frage eines Beitritts der Türkei behandeln?

Die neue deutsche Bundesregierung wird sich jedes einzelne Kapitel der Beitrittsverhandlungen genau anschauen, wobei im Rat jedes Kapitel einstimmig eröffnet und geschlossen werden muss. Die Kommission hat 180 Punkte genannt, in denen die Türkei die Bedingungen nicht erfüllt. Warum hat sie das nicht vor dem Verhandlungsstart am 3. Oktober veröffentlicht? Aber selbst, wenn ein Land alle Bedingungen erfüllt, heißt das nicht automatisch Mitgliedschaft. Auch die EU muss aufnahmefähig sein.

Der CDU-Abgeordnete Elmar Brok (59) ist Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im EU-Parlament.