Die Anti-Immigrations-Kampagne der britischen EU-Gegner erzeugt weiter Turbulenzen auf der Insel - die dem Pro-EU-Lager neue Hoffnung geben. | Sogar eine frühere Partei-Präsidentin der Tories rückte vom Brexit ab.
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London. Immer deutlicher waren zu Wochenbeginn Brüche im Lager der britischen EU-Gegner - der Brexit-Kampagne - zutage getreten. Prominente Brexit-Befürworter der Konservativen Partei versuchen sich vom Ukip-Vorsitzenden Nigel Farage zu distanzieren, bekriegen sich aber auch untereinander. Bereits am Montag kehrte die frühere Tory-Parteipräsidentin, Baronin Sayeeda Warsi, der Brexit-Kampagne den Rücken, obwohl sie, wie sie beteuerte, "immer Euroskeptikerin" gewesen sei. Die Anwältin und Politikerin pakistanischer Herkunft, die bis vor zwei Jahren auch der Regierung David Camerons angehört hatte, erklärte, sie könne die Brexit-Seite nicht länger unterstützen, weil diese nur "Hass und Fremdenhass" verbreite. Ihrem Parteikollegen, Justizminister Michael Gove, warf sie vor, "totale Lügen" in die Welt zu setzen - wie zum Beispiel über einen baldigen EU-Anschluss der Türkei.
"Klima der Feindseligkeit und Intoleranz"
Der Feldzug Farages gegen Einwanderung und das umstrittene Plakat Ukips, das einen Strom von Flüchtlingen auf dem Marsch durch Europa zeigt, würden "Hass" schaffen und die Bevölkerung auf gefährliche Weise spalten, sagte Warsi. Die Brexiteers rückten bedenklich in die Nähe der Britischen Nationalpartei (BNP), Donald Trumps, Marine le Pens und der FPÖ: "Man hat jeden Tag das Gefühl, dass die radikale Rechte sich mehr auf die Seite der Brexit-Kampagne stellt." Alles, was man vom Brexit-Camp höre, sei: "Die Türken kommen, die Syrer kommen, die Flüchtlinge kommen, die Moslems kommen, die Terroristen kommen." Das sei für sie "einfach zu viel".
Auch eine andere prominente Tory-Politikerin, die Abgeordnete Sarah Wollaston, hatte sich jüngst wegen des Tons der Brexit-Kampagne aus deren Reihen abgesetzt. Immer mehr gemäßigte EU-Gegner befürchten, dass das Brexit-Camp in Sachen Immigration den Bogen überspannt hat.
Premier Cameron, der die Pro-EU-Seite anführt, erklärte bei einem Fernsehauftritt, die Brexit-Seite habe "ein Klima der Feindseligkeit und Intoleranz" in Großbritannien geschaffen. Farages Wahlplakat sei "nichts als ein Versuch, die Bevölkerung zu verängstigen und zu spalten". Cameron fügte hinzu: "Die Stimme von Jo Cox wird in unserer Kampagne zum Verbleib in der EU schmerzlich vermisst."
Farage warf dem Regierungschef daraufhin vor, den "tragischen" Tod der Abgeordneten "politisch auszubeuten". Cox, eine 41-jährige Labour-Parlamentarierin und Mutter zweier Kinder, war vorigen Donnerstag in West-Yorkshire am hellichten Tag auf offener Straße erstochen und erschossen worden. Ihr mutmaßlicher Mörder, der zu Wochenbeginn im Londoner Strafgerichtshof Old Bailey dem Untersuchungsrichter vorgeführt wurde, unterhielt offenbar Kontakte zu rechtsextremistischen Gruppen. Nach seinem Namen gefragt, erklärte er: "Mein Name ist: Tod den Verrätern, Freiheit für Britannien!"
Zugleich wurde bekannt, dass Cox wenige Tage vor ihrer Ermordung an einer Dokumentation über die Zunahme rechtsradikaler Aktivitäten in ihrer Heimat Yorkshire mitgearbeitet hatte. Allein die Angriffe gegen Moslems in Yorkshire sollen im Vorjahr um 80 Prozent zugenommen haben. In Nordengland, aber auch in anderen Teilen Englands, erfreuen sich rechtsextreme Gruppen zunehmender Popularität.
Einer Untersuchung der "Financial Times" (FT) zufolge war während der Referendums-Kampagne "die Rhetorik der äußersten Rechten schwer zu unterscheiden von jener der Brexit-Gruppen". Vergangene Woche noch habe die BNP ihre Mitglieder darüber "informiert", dass demnächst 80 Millionen Türken "nach Europa strömen" würden. Ähnliches hatten Minister Gove und Ukip-Chef Farage suggeriert. In der Tat hatten sich Rechtsradikale mehrfach Brexit-Kundgebungen angeschlossen und sich vor allem mit Farage ablichten lassen. "Die EU-Referendums-Kampagne", urteilte der "FT"-Report, "gab rechten Randgruppen die Chance, gemeinsame Sache mit der Anti-EU- und Anti-Immigrationspartei Ukip sowie mit der euroskeptischen Rechten der Konservativen Partei zu machen".
Umfragen sehen Kopf-an-Kopf-Rennen
Was den Ausgang der Abstimmung betrifft gab es am Dienstag widersprüchliche Prognosen: Einige Umfragen sahen die Brexit-Befürworter vorn, andere das Pro-EU-Lager. Laut dem Institut ORB legten die EU-Anhänger auf 53 Prozent zu, das Brexit-Lager fiel auf 46 Prozent. Im Gegensatz dazu sieht das Institut Survation nur noch einen hauchdünnen Vorsprung: Mit 45 Prozentpunkten lägen die EU-Befürworter nur einen Punkt vor dem Brexit-Lager. Noch am Sonntag hatte das Institut einen Vorsprung von drei Prozentpunkten ausgemacht. Und in einer YouGov-Umfrage sprachen sich gar 44 Prozent für den Brexit aus und nur 42 dagegen. Eines scheint jedenfalls sicher: Das Referendum am Donnerstag dürfte ein Kopf-an-Kopf-Rennen werden.