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Wenn der Zweck die Mittel heiligt, dann verdienen die Enthüllungen der "Stern"-Journalistin Laura Himmelreich (29) Applaus; sie beschreibt darin, wie der deutsche FDP-Politiker Rainer Brüderle (67) sie vor einem Jahr an einer Bar bedrängt hat, ihr mit den Worten - "Sie können ein Dirndl auch ausfüllen" - auf den Busen gestarrt und dann ihre Hand geknutscht hat. Die Story löste einen Aufschrei aus, der sich über den Nachrichtendienst Twitter zu einer Bewegung gegen sexuelle Übergriffe ausweitete; Frauen trauen sich vermehrt aus der Deckung und der Ruf nach strengeren Strafen (siehe rechts) wird lauter. Der Zweck der Story wäre damit geheiligt.
Stigmatisiert
Der Zweck heiligt in diesem Fall aber nicht das Mittel, die Story hätte nie erscheinen dürfen. Denn sie wird Brüderle, der seit 30 Jahren in der Politik ist, mittelfristig wohl das Genick brechen. Sein Vergehen noch einmal zum Mitschreiben: Er hat im Suff eine Journalistin plump "angebraten", wohlgemerkt an der Bar gegen 24 Uhr, nicht im Bundestag. Dabei hat "Brüderle unfein" eine Grenze überschritten. Sein "Opfer" war aber freiwillig dort und als Karrierejournalistin so stark, sich mit Worten zu wehren. Ein Glas Wasser ins Gesicht hätte ihm auch nicht geschadet. Aber er ist bitte kein Strauss-Kahn. Er hat ihr weder auf den Busen noch auf den Hintern gegriffen und ihr auch nicht damit gedroht, dass sie ihren Job beim "Stern" verliert, wenn sie nicht willig ist.
Enthüllung mit wenig Inhalt
Ein Handkuss und ein Dirndl-Sager reichen, um eine "Stern"-Reporterin ein Jahr zu traumatisieren? Viele Frauen werden tagtäglich ernsthaft bedrängt. Für sie muss es Ansprechpartner in Firmen und Justiz geben. Es muss aber bitte auch ohne zeitlich gut platzierte Enthüllungsstorys wie jener im "Stern" gehen (erschienen eine Woche, nachdem Brüderle als FDP-Spitzenkandidat feststand). Die Rechtfertigung des "Stern"-Chefredakteurs, Brüderles Verhalten sei "offensichtlich" ein "Grundmuster" seines Verhaltens gegenüber Frauen, wirkt konstruiert. Konkrete Beweise dafür bleibt er schuldig.
Österreichische Journalistinnen könnten Bände füllen mit "Brüderle-Storys" über heimische Politiker und Vorstände. Nach "Stern"-Standards hieße es jetzt: Feuer frei!