Mit etwa 100.000 Mitgliedern ist die Budapester Jüdische Gemeinde die größte in den neuen EU-Ländern. Sie sieht sich mit latentem Antisemitismus konfrontiert, der in den Fußballstadien regelmäßig zu rassistischem Skandieren ausartet.
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Es gibt ihn in Ungarn, den "leisen Antisemitismus" - jenes Konglomerat verschiedener unreflektierter Meinungen über "die Juden", die man zu kennen glaubt. Selbstsüchtig, geizig und abgehoben sollen sie sein - die Antithese zum "ehrlichen ungarischen Patrioten". Derartigen Vorurteilen begegnet man häufig in den Straßen Budapests. Wobei Judenhass in Ungarn nicht ausgeprägter ist als in anderen europäischen Ländern, wie der Historiker Ivan T. Berend dargelegt hat.
Doch gibt es ihn, den manifesten, hasserfüllten Antisemitismus, wie er sich etwa in der Schändung des Holocaust-Denkmals im ostungarischen Debrecen vor einigen Wochen bemerkbar machte. Oder in den Fußballstadien als jenen Orten, wo unterschwellig vorhandene Ressentiments leicht zu rassistischem Gebrüll mutieren.
Mit Schaudern erinnert sich so mancher Anhänger des Budapester Vereins MTK an den Sommer des Jahres 2001, als rechtsextreme Politiker den Sport missbrauchten und das Klima in den Fußballstadien nachhaltig vergifteten.
Anlass war die Übernahme des Erstligisten Ferencváros (FTC) durch den - jüdischen - Geschäftsmann Gábor Várszegi, Hauptaktionär des Großkonzerns Fotex, der bereits die Fäden bei MTK, einem Fußballverein, der in Ungarn traditionell mit "Judentum" identifiziert wird, in Händen hielt. Folge war, dass Lászlo Bognár, Abgeordneter der rechtsextremen MIÉP-Partei István Csurkas, mit einer grün-weiß-schwarzen Schleife im Budapester Parlament erschien: Grün-weiß, die Klubfarben "seines" Vereins Ferencváros. Schwarz als Zeichen der "Trauer", dass die von ihm verehrte Mannschaft nun vom "jüdischen Kapital" kontrolliert werde. Bezeichnend die Reaktion der damaligen Justizministerin und jetzigen Vorsitzenden des Ungarischen Demokratischen Forums, Ibolya Dávid, die den ungeheuerlichen Vorfall mit den Worten "Ich verstehe nichts von Fußball" kommentierte. MIÉP-Parteichef Csurka legte nach und sprach wörtlich von einer "antinationalen Transaktion". Die FTC-Anhänger bezeichnete er als "national gesinnte, anständige Ungarn", denen die MTK-Fans als mit "fremden Wurzeln ausgestattete Großbürger" gegenüber stünden.
"Zug nach Auschwitz"
Der rechtsextreme "harte Kern" der Ferencváros-Fans hörte die Botschaft wohl, rassistische Ausschreitungen bei Fußballmatches stiegen beängstigend an. "Der Zug fährt nach Auschwitz", skandierten hunderte Ferencváros-Anhänger bereits am 19. April 2001 bei einem Spiel gegen MTK - es waren 147 Züge, mit denen zwischen dem 15. Mai und dem 7. Juli 1944 437.402 ungarische Juden in das Vernichtungslager deportiert worden waren. In der Folge wurde es für MTK-Fans zunehmend riskant, ihre Mannschaft im Stadion zu unterstützen. "Antisemitische Verbalattacken und physische Übergriffe sind deutlich angestiegen", weiß der ungarische Fußballfan István Körmendi. Denn nicht nur Ferencváros, auch die Erstligisten Honvéd und Újpest würden über einen gewaltbereiten rechtsradikalen "harten Kern" verfügen. Der chronische Zuschauerschwund in den Stadien sei nicht zuletzt auf Angst vor gewalttätigen Ausschreitungen zurückzuführen, so der Fan.
Wobei es sich hier um das Phänomen des "Antisemitismus ohne Juden" handelt. "MTK hat keinen einzigen jüdischen Spieler mehr", wundert sich Körmendi.