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Die EU-Erweiterung steht vor der Tür. Im Jahr 2004 sollen die ersten Beitritte der Mittel- und Osteuropäischen Länder (MOEL) beginnen und damit wird es auch zu Änderungen für den heimischen Arbeitsmarkt kommen. 20.000 Arbeitsmigranten werden pro Jahr für Österreich erwartet, drei Viertel von ihnen werden sich in der Ostregion niederlassen. Pro Tag könnten rund 76.000 Personen einpendeln, davon würden 30.000 einen Job im Wiener Raum suchen. Für einen solchen Arbeitskräftezuwachs sind derzeit weder die Wiener Wirtschaft noch die Arbeitnehmer gerüstet. Die Regierung der Bundeshauptstadt fordert deshalb, dass umgehend in Aus- und Weiterbildung investiert wird.
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Was wird uns die Integration neuer Länder bringen? Konkrete Aussagen sind nur bedingt möglich, denn die Entwicklung hängt von vielen unvorhersehbaren Faktoren ab. Die Studien zur EU-Erweiterung sind Legende. Im Wetteifern ums bedruckte Papier hat nun Wien die Nase vorn: Gemeinsam mit dem Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg und der Steiermark wurden beim Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) 14 Teilstudien in Auftrag gegeben. Unter dem Namen "preparity" wurde versucht, sowohl die Chancen als auch die Risken - soweit beides über einen so langen Zeitraum hinweg prognostizierbar sind - abzuschätzen. Die Wirtschaftsforscher kamen zu dem Schluss: Insgesamt dürften für den Wiener Wirtschaftraum die Erweiterungsvorteile überwiegen, doch den negativen Szenarien muss rechtzeitig begegnet werden.
Zu den heikelsten Themen gehören Migranten und Tagespendler. Das Potenzial der Erweiterungskandidaten wird von 41.000 bis 680.000 Menschen geschätzt, wobei es den Großteil - rund 77 Prozent - nach Österreich und Deutschland ziehen wird. Auch wenn die Politiker nicht müde werden zu beteuern, dass die Chancen und Vorteile die Nachteile des Erweiterungsprozesses bei weitem überwiegen, sollte man die Fakten unter die Lupe nehmen. Im Rahmen der "Preparity"-Konferenz wurden die Ergebnisse diskutiert. Die Wifo-Experten untersuchten die Auswirkungen auf Österreich wenn Slowenien, Tschechien, die Sowakei, Ungarn und Polen (MOEL 5) gemeinsam in die EU aufgenommen werden. Die Autoren gingen davon aus, dass der Arbeitsmarkt nicht sofort für die "Neulinge" geöffnet, sondern bis 2012 reglementiert sein wird. Trotzdem errechneten die Wissenschafter einen Schub von 20.000 zusätzlichen Arbeitskräften pro Jahr, die sich in Österreich niederlassen werden.
Die Hälfte der Arbeitskräfte wird nach Wien einwandern
Allein in der Ostregion werden sich drei Viertel der Migranten ansiedeln. "Wahrscheinlich ist, dass etwa 9.400 zusätzliche Arbeitskräfte pro Jahr auf Wien entfallen werden", ist in der Teilstudie 9 zu lesen. In Prozenten ist das ein jährliches Plus von Arbeitskräften von 1,1 allein in der Bundeshauptstadt. Studienautor Peter Huber ist sich der Tatsache bewusst, dass die Zuwanderer heimische Arbeitnehmer verdrängen und dass dies auch ein Sinken des Lohnniveaus zur Folge haben wird. Denn im gleichen Ausmaß können nicht neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
So rechnet man damit, dass rund ein Drittel in Wien an neuen Arbeitsstätten unterkommen kann, doch die restlichen zwei Drittel der Zuwanderer werden andere Arbeitskräfte, sowohl In- als auch Ausländer, verdrängen. In der Wirtschaftsabteilung der Stadt Wien nimmt man diese Aussicht dennoch gelassen, denn Wien wird nicht Hauptbetroffener sein. "Die Verdrängung der Arbeitskräfte hat nur geringe Auswirkungen auf die Wiener Arbeitslosenquote, weil - wegen des hohen Anteils der Einpendler - die verdrängten Personen vielfach in anderen Bundesländern arbeitslos werden", vermerkt Reinhard Troper, Leiter der MA 26 in seiner Zusammenfassung.
Die im Verdrängungswettbewerb Benachteiligten wären etwa burgenländische Bauarbeiter oder Beschäftigte im Gastgewerbe, die aus der Umgebung Wiens stammen. Arbeiter und Frauen, die nicht so leicht ein neues Arbeitsverhältnis finden, müssten sich mit weniger Lohn zufriedengeben. Der Schluss, den Troper daraus zieht: Die Zuwanderung muss gesteuert werden, damit nicht überwiegend unqualifizierte Inländer aus ihren Jobs gedrängt werden. Zusätzlich müssen Bundesländerquoten für eine gleimäßigere Aufteilung der Zuwanderer sorgen.
30.000 Pendler täglich im Wiener Raum zu erwarten
Doch arbeitswillige Polen oder Tschechen, die sich bei uns niederlassen wollen, sind nicht die einzigen, die hier ihr Glück versuchen wollen. Aufgrund der Nähe zu Städten wie Bratislava ist auch mit einem beträchtlichen Potenzial an Tagespendlern zu rechnen. Die Wirtschaftsforscher schätzen, dass 76.000 Personen täglich nach Österreich fahren wollen, davon 30.000 nach Wien.
Der verantwortliche Wiener Wirtschaftsstadtrat Sepp Rieder glaubt, dass es mit oder ohne EU-Erweiterung zu "Strukturveränderungen" kommen wird, doch er weiß, dass auch Wien noch nicht ausreichend gerüstet ist. Er spricht von der Erweiterung des Wirtschaftsraumes als Chance und wählt dabei den äußerst unglücklichen Vergleich mit dem "klassischen Kolonialismus".
"Die Tagespendler sind für unsere Arbeitswelt ein Problem, auf das reagiert werden muss." Laut Rieder sind es derzeit 100.000 die täglich aus den Bundesländern einpendeln. Der zusätzliche Andrang werde vor allem schlecht ausgebildete Arbeitnehmer treffen. Rieder plädiert dafür, die 7-jährige Übergangsfrist zu nützen: "Wir müssen die Arbeitnehmer qualifizieren, sonst gehen die Nachfrage und das Angebot am Arbeitsmarkt wild auseinander." Wenn der Zeitraum verschlafen wird, fallen "Strukturbereinigungen" - dieser harmlose Fachterminus bezeichnet den Verlust von Arbeitsplätzen und das Verschwinden von Branchen - weit drastischer aus. Außerdem fordert Rieder, dass die Grenzregionen, zu denen er auch Wien zählt, spezielle Verträge über Schlüsselarbeitskräfte abschließen dürfen. "Bisher gibt es von der Regierung noch keine Entscheidung, ob Wien Teil der Grenzregionen ist."
Mit der billigen Konkurrenz aus Mittel- und Osteuropa sind nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die kleinen und mittleren Betriebe konfrontiert. Sie sind aber bei weitem noch nicht so gut vorbereitet, wie die Industrie, die sich nach Aussagen von Industriellen-General Lorenz Fritz keinerlei Sorgen über die Zukunft macht. Natürlich weiß auch er, dass es "klarerweise Verlierer geben wird", die Industriekapitäne zählen aber nicht dazu.
Wettbewerbsdruck wird für Kleine zum Problem
"Massive Unterstützung und Vorbereitung brauchen die Klein- und Mittelbetriebe", betont Gerhard Burian, der im Wirtschaftsministerium für grenzüberschreitende Zusammenarbeit verantwortlich ist, "doch viele kennen das vorhandene Angebot gar nicht." Als besonders benachteiligte Branchen gelten das Bau- und Baunebengewerbe, der Einzelhandel und der Gütertransport per Lkw. Hier sind höchstwahrscheinlich die größeren Einbrüche zu erwarten. Schon der EU-Beitritt hätte Probleme für die Unternehmen gebracht, betont Wifo-Chef Helmut Kramer. Doch der künftige Überlebenskampf werde noch um einiges härter und nur dann zu gewinnen sein, wenn rechtzeitig von der Politik die richtigen Vorkehrungen getroffen werden. Umgekehrt müssen sich die Beitrittsländer auf die Abwanderung gut ausgebildeter Arbeiter einstelllen, gerade deren Mangel könnte aber den erhofften Wirtschaftsaufschwung der MOEL 5 stark bremsen. Dem steirischen Wirtschaftslandesrat Herbert Paierl schweben Cluster, als "Selbsthilfegruppen" zu denen sich die Kleinen Betriebe zusammenschließen, vor. Er sieht die Erweiterung des Marktes als Chance für den Export heimischer Qualitätsprodukte. Statt einer Million Abnehmer hätte der Südraum Österreichs dann mit 10 Millionen zu rechnen.
Als wesentlichen Hemmschuh für Expansionstätigkeiten empfindet er die Infrastruktur. Die sei nur im Donauraum und auf der Westbahn gut. Unzufrieden zeigt sich der Steirer auch mit dem Angebot der ÖBB: "Der Monopolist braucht Wettbewerb." Verkehrsanbindungen Richtung Zagreb und Laibach ließen zu Wünschen übrig. Für Wiens Verkehrsstadtrat Rudolf Schicker schneidet Wien im internationalen Städtevergleich schlecht ab. Die Verbindung ins grenznahe Bratislava sei schlecht. Schützenhilfe bekommt Schicker vom EU-Mandatar Hannes Swoboda. "Was ist in der Vorbereitungszeit passiert? Fast gar nichts. Die Bahnverbindung zwischen Wien und Bratislava wurde erneuert, aber die Fahrt dauert jetzt länger als zuvor." Dies ist für ihn ein Zeichen, dass Österreich abgesehen von Reden noch kaum aktiv und konkret an der EU-Erweiterung arbeitet. "Ich würde mir wünschen, dass uns Brüssel auf die Füße steigt, damit endlich mehr für die Vorbereitung getan wird."