London hat im Endspurt erhebliche Zugeständnisse machen müssen. Von "nationaler Erneuerung" kann nicht die Rede sein. Eine Analyse.
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London. Boris Johnson hat sein Ziel erreicht. Sein Land wird endgültig von der EU abgekoppelt. Brexit war ja sein Schlachtruf vom Frühjahr 2016 an. Noch vor den Wahlen des letzten Dezember hatte er versprochen, er werde den Austritt nun endlich "über die Bühne bringen".
Im Monat darauf sah man das Vereinigte Königreich seine Mitgliedskarte in Brüssel abgeben. Jetzt, in der Nacht auf Freitag, verlassen die Briten auch Binnenmarkt und Zollunion, das Kraftfeld der Union. Damit, glaubt Johnson, sei sein Auftrag erfüllt in der Brexit-Saga.
Die zu Weihnachten mit der EU getroffene Vereinbarung betrachtet der Briten-Premier dabei als seinen persönlichen Triumph. Er habe, meint er, seinen Landsleuten "die Kontrolle über ihre Geschicke" wiedergegeben, ohne dass ihnen der kommerzielle Zugang zum großen Markt jenseits des Ärmelkanals genommen worden sei. Zollfreier Warenverkehr mit dem EU-Bereich soll nun kombiniert werden mit gleichzeitiger eigener Konkurrenzfähigkeit, mit neuen Handelsprivilegien. Schatzkanzler Rishi Sunak sagt "risikofreudigem" Kapital bereits schöne Profite voraus.
Der Tory-Rechten, die seit dem Referendum und vor allem seit Johnsons Regierungsantritt das Sagen hat in London, ging es nie bloß um Widerstand gegen "die Brüsseler Bürokratie". Ihr alter Traum von einem "Singapur an der Themse" charakterisiert die von den Hardlinern vorgegebene Zielrichtung auf dem Weg zu "neuen Ufern" - ungeachtet der Tatsache, dass eine Vielzahl neutraler Experten und Englands Zentralbank bei jüngsten Kostenvoranschlägen auf einen beträchtlichen Preis für diesen Brexit gekommen sind.
Prophezeit haben sie einen Einbruch der britischen Wirtschaftskraft um 4 Prozent im Jahr auf lange Zeit hin - zusätzlich zu den enormen gegenwärtigen Verlusten durch die Pandemie. Befürchtet wird, dass das britische Handelsvolumen schrumpft, Investitionen ausbleiben und die für London so wichtige Finanzwelt in Schwierigkeiten gerät.
Jede Menge Arbeitsplätze im Lande drohen, diesen Voraussagen zufolge, zu verschwinden. Neue Grenzstaus und Engpässe werden erwartet, Personalmangel in wichtigen Bereichen, Krisen im Gesundheitswesen und an den Universitäten, gekappte Verbindungen zum Kontinent, Einbußen an globalem Einfluss, Komplikationen aller Art.
Mays Interpretation
Tatsächlich hat Boris Johnson selbst schon zum Ende der Feiertage einräumen müssen, sein Deal gehe "vielleicht nicht ganz so weit, wie wir es gern gehabt hätten". Im Streit um staatliche Subventionen etwa und in der Frage künftiger Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards scheint London bei den Verhandlungen am Ende nachgegeben zu haben. Der Arm der EU reicht noch immer weiter als es den Brexiteers lieb ist. Nordirland bleibt im Bereich europäischer Rechtsprechung. An Datenaustausch fehlt es. Der City of London hat Johnson keine Garantien einhandeln können. Und die britischen Fischer fühlen sich "verraten und verkauft".
Bemerkenswert ist, dass es dazu überhaupt hat kommen müssen. Nicht einmal die Brexiteers - Johnson inklusive - hatten ja am Anfang ein Ausscheren aus den Märkten der EU verlangt. Ihnen ging es, nach eigener Beteuerung, einfach ums Einsparen der Mitgliedsbeiträge, um ein größeres Maß an politischer Selbstbestimmung und, ja, auch ums Fernhalten von Fremden. Vielen Wählern ging es um das bessere Leben, das ihnen versprochen worden war. Dass ohne Total-Abkoppelung von Europa der Brexit "letztlich kein Brexit wäre", war erst Theresa Mays nachträgliche Interpretation des Referendums.
Diese Idee der Notwendigkeit eines "harten Brexit", serviert mit viel Nostalgie und patriotischen Parolen, übernahm Boris Johnson von seiner Vorgängerin. Am Ende steuerte er einen Deal mit der EU an, der faktisch eine Verschlechterung der Lage seines Landes bedeutet, es ihm aber erlaubt hat, sich als Streiter für uneingeschränkte Souveränität zu präsentieren. Wie teuer dies sein Land zu stehen kommen wird, wird man noch sehen.
Johnsons Überzeugung jedenfalls, Großbritanniens seit Ewigkeiten virulente "europäische Frage" ein für alle mal gelöst zu haben, dürfte sich als irrig erweisen. In einem weiterhin tief gespaltenen Land, dessen Jugend ausgesprochen pro-europäisch ist, kann von "nationaler Erneuerung" durch diese Art von Brexit keine Rede sein.