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Brutstätte für die Eiszeit

Von Roland Knauer

Wissen
So könnte das Wollnashorn aus Tibet sein Horn als Schneeschaufel eingesetzt haben.

Bisherige Theorien lagen um 900.000 Jahre daneben. | Wiege der großen Pflanzenfresser war am Himalaya.


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Berlin. Eigentlich waren sich die Wissenschafter längst sicher: Als vor rund 2,8 Millionen Jahren im Norden der Erde die Eismassen weit vorrückten und große Landstriche Europas und Amerikas unter sich begruben, entstanden gleichzeitig die charakteristischen großen Säugetiere dieser Zeit wie Mammuts und Wollnashörner.

Denn südlich der gigantischen Gletscher und im damals weitgehend eisfreien Norden Sibiriens spross das Gras im Sommer ähnlich üppig wie heute in der tropischen Serengeti im Osten Afrikas. Diese reiche Nahrungsquelle nutzten bald große Säugetiere aus der Verwandtschaft der Nashörner und Elefanten. Diese Arten schützten sich mit zotteligen langen Haaren und anderen Anpassungen vor der eisigen Kälte, es entstanden neue Arten der Kältesteppen.

Soweit die Theorie, die Xiaoming Wang von der chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking und seine Kollegen jüngst in "Science" (Band 333) mit dem Schädel eines Wollnashorns vom Tisch fegten. Denn dieses Tier gehört nicht nur zu einer recht urtümlichen und bisher unbekannten Art, die von den Entdeckern Coelodonta thibetana genannt wird. Sondern es stapfte vor bereits 3,7 Millionen Jahren zu Füßen des Himalaya-Gebirges durch das Hochland von Tibet. Erst knapp eine Million Jahre später aber stießen die Gletscher im Norden Europas und Eurasiens vor.

Die Forscher aus China, den USA und Finnland schlagen daher ein ganz anderes Bild von der Entstehung der großen Pflanzenfresser der Eiszeit vor.

Deren nächste Verwandte lebten damals wie heute ohnehin in den wärmeren Regionen Asiens. Als der indische Subkontinent langsam gegen den Rest Asiens driftete, faltete die Kollision nicht nur mit dem Himalaya das höchste Gebirge der Welt auf, sondern hob dahinter mit dem Hochland von Tibet auch die höchste Hochebene der Erde auf. Bereits vor rund acht Millionen Jahren lag diese Region mit 4000 bis 5500 Metern über dem Meeresspiegel ähnlich hoch wie heute. Die Winter auf der Hochebene sind kalt, oft liegt eine dicke Schneedecke. Die Sommer sind zwar kühl, aber es wächst reichlich Gras.

So ähnlich sah es bereits vor etlichen Jahrmillionen auf den eiszeitlichen Kältesteppen Nordamerikas, Mitteleuropas und des nördlichen Sibiriens aus. Im Sommer lockte leckeres Gras daher Rinder, Nashörner und Elefanten aus den nahen wärmeren Regionen auf das Hochland von Tibet. Und die passten sich an die Kälte gut an: Genau wie noch heute das Hochlandrind Yak hatte auch das Wollnashorn ein zotteliges, langes Fell, das hervorragend gegen die Kälte schützt. Das vordere Horn des Wollnashorns flachte rechts und links zunehmend ab und änderte seine Gestalt, bis es die Form einer etwas dicken und lang gestreckten Schaufel hatte.

Mit diesem Gesichtsschmuck aber lässt sich mit einer seitlichen Kopfbewegung lockerer Schnee gut wegschieben. Aufgrund der niedrigen Temperaturen war die Schneedecke damals meist sehr locker. Mit ihrem zu einer Schneeschaufel umgebauten Horn kamen die Tiere daher auch im Winter an das leckere Gras und mussten nicht verhungern.

Schlaraffenland für angepasste Säugetiere

Ein ähnlich geformtes Horn hatte das jetzt in Tibet entdeckte Wollnashorn Coelodonta thibetana bereits vor 3,7 Millionen Jahren. In Tibet entwickelten sich damals auch andere Arten wie das Blauschaf, dessen Fossilien die Forscher ebenfalls dort entdeckten. Als dann die Gletscher aus dem Norden vorstießen, mussten die bereits an die Kälte der Steppen angepassten Bewohner Tibets nur noch in dieses neue Schlaraffenland für Wollnashörner und Mammuts wandern. Das Hochland hinter dem Himalaya war also wohl die Wiege der großen Pflanzenfresser der Eiszeit.