Alter Kampf, neue Prägung (I).
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies." Weiterlesen erübrigt sich. Dieser erste Satz von Adolf Hitlers "Mein Kampf" gräbt bereits den ersten Kanal, im dem nationalistische und menschenverachtende Gedanken nur allzu frei fließen. Dürfen diese nun wieder fließen? Darf so ein Kanal geöffnet werden?
Erstmal sei kurz angeführt, warum er bis zum Vorjahr offiziell geschlossen war. Alles Heimische besser als alles andere? Die Dankbarkeit, in einem bestimmten Land geboren zu sein oder sich als Lebensmittelpunkt zu wählen - wie ja selbst der Österreicher Adolf Hitler, der sich später Deutschland als Heimat auserkor - hat nichts damit zu tun, es bzw. sich selbst in rassistischer Arroganz über andere zu erheben. Mensch darf auch in Jerusalem geboren sein. Mensch darf auch in Dar-Es-Salam aufgewachsen sein. Mensch darf auch braun als Hautfarbe haben. Mensch darf auch im Kaftan am Boden sitzend gesüßten Milchtee trinken. Ja, Mensch darf das alles.
Klang vor einigen Jahrzehnten hier so unglaublich, war und ist aber immer schon so. Diese freie Toleranz der Vielfalt ist unsere harterkämpfte geistige Errungenschaft der Jahrzehnte nach 1945. Übrigens: Mensch darf auch flüchten, und das sollte er logischerweise sogar, wenn er aus unerwarteten Gründen in Lebensgefahr kommt. Nur Flucht ermöglicht es ja, lebendig zu einem sichereren Zeitpunkt zurückzukehren um dann wieder zeitlich gut investierte Aufbau- und Bildungsarbeit zu leisten.
Die wunderbare, klare Selbstverständlichkeit, mit der diese Sätze veröffentlicht werden, versteckt sich an vereinzelten Orten des Globus hinter dichtem Dunkel kritischer Weltereignisse. Selbst Europas jüngste Entwicklungen vernebelten aus verständlicher Sorge diese Klarheit. Nur allzu schnell fühlt man sich als Europäer derzeit auf eine Seite gezogen. Auf eine der neuen Seiten, die es plötzlich wieder zu geben scheint. Aber zurück im Thema, zum alten "Kampf", um zu verhindern, dass kein neuer kommt:
Geht diese Menschlichkeit zu weit?
Genau dieses Thema ist Teil des österreichischen Geschichtsunterrichts. Wie darf darf Menschlichkeit in Notsituationen jeglicher Art gehen? Wie weit soll sie gehen, auch wenn man begründete Angst um die eigene Haut hat? Jährlich immer wiederkehrende Diskussionsrunden ab der 4. Klasse Volksschule aufwärts mit Herrn und Frau Lehrer und Professor behandelten, um wieder auf die Vergangenheit zu sprechen zu kommen, geschichtlich dokumentierten Widerstand gegen nationalsozialistische Rassenideen.
An diese Gedankenkanäle war ich gewöhnt, dieser Teil der Geschichte Österreichs begleitete fast meine ganze Schulzeit. Semesterlektüre war traditionell Viktor Frankl und die Geschichte der Geschwister Scholl. Später sollten Exkursionen in die düstere KZ-Gedenkstätte Mauthausen uns Jugendliche genauestens über das wahre Gesicht von Hitlers Terrorherrschaft aufklären - von A wie Antifaschisten, die sich aufgrund ihrer jeweiligen politischen Gesinnung gegen Hitler stellten, bis Z wie Zeugen Jehovas, die aus biblischen Gewissensgründen politisch neutral bleibend jeglichen Kriegsdienst ablehnten.
Das Buch "... trotzdem Ja zum Leben sagen" setzt der Menschlichkeit hier sogar noch eine Krone auf: Viktor Frankls Schrift, geschrieben in seiner Rolle als jüdischer KZ-Überlebender, hält Versöhnung für die sinnvollste Abrechnung mit dem NS-Regime.Fazit: Es ging damals wie heute um die Ideologie, die Gesinnung, die im Gedankenkanal fließt.
Menschenverachtendes plätscherte von der anfangs nicht allzu bekannten Person Adolf Hitler daher. Wohin mündete es? Die Barbarei der Nationalsozialisten, die nicht nur Österreich seiner Unschuld beraubte, "hatte ihren Ursprung im Willen und in der Vorstellungskraft eines einzigen Mannes", wie es in einer Online-Dokumentation zu diesem Thema ausgedrückt wird.
Die Schleusen der Meinungsfreiheit offiziell geöffnet
"DieVorstellungskraft dieses einzigen Mannes" ist seit 2016 in seiner geographischen Heimat wieder öffentlich präsent, zugänglich, erhältlich.
Nach Jahrzehnten gewissenhafter Aufarbeitung der Opferschicksale hat es den Anschein, als melde sich nun der Täter zu Wort. Posthum in Buchform. Plump mit seinem "Kampf". Europa und seine neuen Nachbarn sind im Moment sehr angespannt. Es ist wohl nicht der beste Zeitpunkt für seine Wortmeldung. (Kann es diesen in solch geschichtlich unvergleichlicher Tragik überhaupt geben?) Wie ernst soll diese überhaupt genommen werden?
Zumindest für Opfergruppen steht fest: Diese plötzliche mediale Präsenz reisst für so manchen unter ihnen alte Wunden auf - und birgt laut Experten durchaus das gefährliche Potential in sich, neue Wunden an neuen Opfergruppen hinzuzufügen.
Es stimmt: "Mein Kampf" war längst schon im Internet verbreitet. Nach kurzer Suche kann heute Hitlers Manifest gefunden werden, so wie mich beispielsweise die Google-Suche ganz oben auf der Liste auf radioislam.org stoßen ließ, das den freien, ungefilterten Download anbietet. Längst schon wird "Mein Kampf" international verbreitet und gelesen, einige Interessengruppen extrahieren sich die für sie passendsten Aussagen und verwenden sie für ihre jeweiligen - teils völlig konträren - Zielsetzungen. Eines jedoch bleibt diese Schrift unbestritten, selbst im Extrakt: extrem, radikal und menschenverachtend.
Zusammenfassung
Wenn Bildung im Sinnbild für einen Mitteilungskanal steht, in dem konstruktive, bildende Gedanken fließen, drängt sich angesichts der zerstörerischen gedanklichen Dimension, für die Hitlers "Kampf" steht, unvermeidlich die Frage auf, ob dieses Buch nicht eher einem Abwasserrohr gleicht. Irgendwann im Leben treffen die meisten freiwillig oder unfreiwillig auf beide Arten von buchstäblichen Wasser- bzw. Abwasserstraßen, und dasselbe kann seit 2016 auch im Sinnbild für die deutsche und österreichische Bildungslandschaft gesagt werden.
Das alles hat, nach langer persönlicher Erwägung, etwas unbestritten Gutes: Egal, wie widersprüchlich das jeweilige Buch auch sein mag, der Denker hat mehr persönliche Freiheit abzuwägen, wer das Buch verfasst und mit welcher Zielsetzung es geschrieben wurde. Dieser durch solch offene Verfügbarkeit ausgelöste kritische Denkprozess vorab bewirkt schlußendlich die wünschenswerteste Form der Bildung. Nämlich solche, die vermittelt wie man denkt, und nicht, was man zu denken hat.
David Th Ausserhuber ist eingetragener Mediator in Österreich, Italien und Afghanistan und führt strukturierte Mediationen in Deutsch, Englisch und Persisch durch.