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Buch und Bildung von Europa bis Asien (II)

Von David Th Ausserhuber

Leserforum
Dem enormen Bildungshunger in Indien schlägt neben Hitlers "Kampf" unter vielem anderen auch Literatur von Freud und Viktor Frankl entgegen.

Alter Kampf, neue Prägung


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Ob Ron Hubbards Schriften auf der groß angelegten Buchmesse in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Adolf Hitlers "Mein Kampf" als Bestseller in der jeweiligen Landessprache für Studenten in Kabul, Delhi und Dhaka oder ein in den Oberarm tätowiertes arisches Statussymbol eines kurdischen Teenagers im Irak - die Bücherwelt und ihr offensichtlicher Einfluss auf die Gesellschaft hat momentan viele Überraschungen zu bieten. Folgend möchte ich mit der Leserschaft einige unerwartete Beobachtungen der vergangenen Jahre teilen, die ich im Laufe berufs- und studienbedingter Aufenthalte in Asien anstellte.

Hunger nach Bücher in Pakistan und Bangladesch

"What book do you currently read?" Diese unverhoffte Frage eines jungen Universitätsstudenten in Pakistan ist enorm motivierend. Er stellt sie im privaten Smalltalk gleich nach Vorstellung mit Namen, Alter und Beruf. Gerade in seiner Stadt Peshawar und der umliegenden Provinz Khyber-Pakhtunkhwa werden Bildungseinrichtungen oftmals Zielscheibe von Anschlägen. Bildungshunger überlebt den Terror - die bloße Existenz von Buchgeschäften in dieser Stadt spiegelt nach wie vor das große Interesse an Information wider. Die Frage des Studenten zeigt: Das Lesen von Büchern hat erfreulicherweise nach wie vor hohe Bedeutung für die pakistanische Jugend.

Auch Bangladeschs tonangebende Tageszeitung "The Daily Observer" befasste sich eingehend mit dieser Thematik, so widmete sie ihr vor einiger Zeit sogar eine Extrabeilage. "Eine Stadt ohne Buchladen dürfte sich rechtmäßig nicht Stadt nennen", wurde eine Aussage des englischen Autors Neil Gaiman darin zitiert. So kernig präsentiert sich also die Einstellung von Bangladeschis gegenüber Büchern. Beklagt wurde in dem Bericht allerdings, dass die Verfügbarkeit von intellektueller Standardliteratur in Dhaka abgenommen hat. Syed Badrul Ahsan und Englisch-Literaturprofessor an der Kushtia Islamic University Dr. Rashid Askari wirken diesem Trend entgegen. In der farbigen Reportage war ihr erklärtes Ziel zu lesen: Die Buchszene so voranzutreiben wie in Kolkata, im benachbarten West-Bengal in Indien.

Bücherboom in  Indien, Hitler in Afghanistan

Der Buchtrend in Indien hält tatsächlich mit unverminderter Geschwindigkeit an. Es scheint, als würde er in diesem Land keine Grenzen kennen, er müsste den Informations- und Bildungshunger dieser Milliarde auf schnellst mögliche Weise stillen. Auf Neu Delhis belebten Connaught Square bietet sich im Auge des literaturfreudigen Besuchers ein angenehmer Anblick. In den aufgetürmten Buchstapeln finden sich da neben Freuds "Traumdeutung" auch mehrere Exemplare von Viktor Frankls "Die Suche nach dem Sinn". Noch öfter jedoch findet sich Hitlers "Kampf", und zwar in allen erdenklichen Variationen als Buchcover. Man mag sich in Indien bei diesem Anblick wenigstens damit abfinden können, dass Hitlers "Kampf" noch ein Buch unter vielen, sehr vielen anderen ist.

Die kleine, endlich aufkeimende Buchszene im afghanischen Kabul jedoch subtrahiert die vielen anderen Bücher und gibt dem politischen Hauptarier, über den man dortzulande viel zu wenig weiß, erstaunlich viel Raum. In die wichtige Landessprache Persisch übersetzt, wird Hitlers "Kampf" mit dem Hakenkreuz am Cover ungestört und völlig kritiklos neben dem Eingang zum zentralen Shahre-Nou-Park angeboten, die weitere Auswahl an anderen Büchern fällt gerade für dieses konfliktträchtige Land erschreckend gering aus. Wurde da zum Beispiel Viktor Frankls Klassiker laut einigen Internet-Quellen sehr wohl ins Persische übersetzt, schaffte es dieses persönlichkeitsbildende Werk leider kaum aus einigen exklusiven iranischen Büchergeschäften Teherans bis ins öffentliche Bewusstsein der jungen Studenten in Kabul.

Hakenkreuz als Tätowierung im Irak, unsterbliche Poesie im Iran

Nach Kabul drängt sich die Frage auf: Welches Bild unserer Geschichte vermittelt solch allzu salopper Umgang mit dieser Art Literatur? Ein persönliches Erlebnis aus der irakisch-kurdischen Universitätsstadt Suleymania soll hier als Gedankenanstoß dienen. Im Schnellrestaurant servierte mir der junge kurdische Angestellte neben Burger und French Fries auch den Anblick seines Oberarms. Nachdem ich mich bei ihm als Österreicher vorgestellt hatte, wollte er mir mit seinem groß tätowierten Hakenkreuz ein freundlich gemeintes Signal der gegenseitigen arischen Verbundenheit senden. Er tat es offensichtlich ohne Hintergedanken, aber gerade diese Ignoranz mag viele weitere an dieser Stelle schockieren. Übrigens: Hitlers "Kampf" gehört in arabischen Ländern schon lange zu den Bestsellern.

Im Nachbarland Iran wird der westliche Besucher in den unzähligen Buchläden der Hauptstadt so einige Male auf Hitlers "Kampf" stoßen. Die enorme Auswahl an anderen Werken der Philosophie und Geschichte ist in dieser Stadt dank der Menge an Studenten allerdings so hoch, dass der Bücherwurm beim Wälzen nicht so leicht aus dem Gleichgewicht kommt. Erstaunlich: Im Vergleich zum Englisch-geprägten Indien gibt es im Iran eine außergewöhnlich hohe Anzahl an Werken und internationalen Standard- und Geschichtsbestsellern, die direkt in die Landessprache übersetzt wurden. Glücklicherweise auch einige Bücher, die die Schätze der persischen Poesie auch sorgfältig in Englisch hoben.

Eine äußerst fragwürdige Klasse für sich: Bücher von Ron Hubbard in Arabien

In regelmäßigen Abständen halten sowohl Teheran als auch Sharjah in den Vereinigten Arabischen Emiraten groß angelegte Buchmessen ab. Das Interesse der Massen an diesen Messen, das heisst an Bildung und Büchern im Allgemeinen, ist ungebrochen. Das zweifellos Besondere gerade an der jährlichen Buchmesse in Sharjah: Sie ist Gastgeberin einer wahren Büchervielfalt aus dem benachbarten Südasien, dadurch werden Buchtrends in Arabisch über Bengali bis Hindi in kürzester Zeit ersichtlich. Zweifellos ist gerade diese Buchmesse der Trendsetter des Leseverhaltens in diesem Erdteil schlechthin.

Österreich war in angenehmer Weise mit neuer Literatur für den intelligenten Spracherwerb vertreten. Ein ausschließlich erfrischendes Durchatmen wie im gelungenen Austria-Pavillion auf der letztjährigen Expo in Mailand war also für einen Österreicher auch in Sharjah möglich.

Einzig beim Besuch eines bevölkerten Stands an weggünstiger Stelle der Buchmesse stockte einem anfangs etwas der Atem. Buntes, ansprechendes Buch- und Videomaterial zum Thema Lebensfindung und Persönlichkeit, "das sich ausgezeichnet zum Englischunterricht eignet", fand sich dort. Autor des Buches, Autor aller Bücher und sonst jeglichen Materials an diesem Stand war bei genauerem Hinsehen niemand anders als Lafayette Ronald Hubbard. Schnell bemühte sich der kontaktfreudige amerikanische Messeaussteller in dem sich windenden Redefluss einzufügen, dass L. Ron Hubbard nicht der religiöse Prophet, sondern der Autor von Scientology vertriebenen Büchern wäre. Und dass sich das Material hervorragend für Englisch-Schulklassen eignete. Und vieles mehr.

Diese unverhoffte Entdeckung gab wahrscheinlich gerade
deutschsprachigen Besuchern wie mir Anlass zur Verwunderung. Man bekommt diese Art Literatur selten in deutschsprachigen Ländern so offen zu Gesicht, sei es auch nur für den Zweck der bloßen Sprachvermittlung. Die große Umstrittenheit aller Bücher von Scientologys Gründer Hubbard ist hier bei uns auch in keiner Weise unbegründet. Was aber den intellektuellen Hunger in Sharjah betrifft: Zumindest die Offenheit der Meinungsäußerung in diesem arabischen Land der allerersten Welt ist positiv wie überraschend. Positiv, weil durch das Ausstellen verschiedener Arten von Büchern wertvolle Denkprozesse angeregt werden, solche im ersten Teil des Artikels erwähnte bildende Prozesse, die einem selbst bewusst machen, wie man denkt. Gleichwie jedoch etwas überraschend, weil dem Besucher durch gerade ebenjene Denkprozesse ein vielleicht sonst unbeachtetes Detail gewahr wird. Trotz aller Internationalität war in der schier unendlichen Literaturauswahl ein traditioneller internationaler - und wahrscheinlich nicht minder umstrittener - Bestseller kaum auffindbar. Gerade das meist übersetzte Buch der Welt war in Sharjahs riesigen Buchhallen schlichtweg nicht präsent. Natürlich muss ich zugeben: Vielleicht war ich einfach nur durch oben erwähnte erstmals erblickte Literatur für einige Zeit so perplex, dass meine im Gedanken versunkenen Sinne erst viel später wieder beim stark gesüssten Schwarztee am Abfluggate auftauchten.

Zusammenfassung

Meinen Beobachtungen nach zu schließen, schafft sich gerade jetzt polarisierende Literatur ihren Platz im Bewusstsein einer aufgeklärten und interessierten internationalen Leserschaft, von Wien über Sharjah bis Delhi. Gerade durch das Internet sind die letzten Schleusen der Meinungsfreiheit endgültig offen. Was das alles mit sich bringen wird, wird die Zeit zeigen. Ein begrüßenswerter Vorteil dieser Entwicklung: Der kritische Leser fühlt sich weniger bevormundet und kann sich mehr der Bildung, dem Bilden konstruktiver Gedankengänge widmen, er kann sein "Wie" durch-denken, anstatt gezwungen zu sein ein "Was" anderer nach-zudenken. Außerdem ist aufklären ohnehin besser als verbieten. Wie die Geschichte ausreichend gelehrt hat.

David Th Ausserhuber ist eingetragener Mediator in Österreich, Italien und Afghanistan und führt strukturierte Mediationen in Deutsch, Englisch und Persisch durch.