Der Autor versucht in einem Essay das Mysterium Wahrheit in unterschiedlichen Zugängen zu ergründen. Eine Begegnung.
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"Wahrheit ist ein Begriff, mit dem die Menschen seit Jahrhunderten einander geißeln." Clemens J. Setz spricht ein großes Wort gelassen aus. Und untertreibt dabei vermutlich sogar. Denn Wahrheit ist nicht irgendein Begriff. Sondern der Begriff, der die existenziellen Entscheidungen des Lebens untermauert: die Rechtssprechung, politisches Handeln, religiöse Bekenntnisse, Lebensphilosophien. Insofern gehört die Deutung von Wahrheit zu den wesentlichen Fragen der Menschheitsgeschichte.
Setz, der in Graz geborene, mit Auszeichnungen und Preisen überhäufte Autor, versucht sohin nicht mehr und nicht weniger, als auf nicht einmal 50 Seiten ein Mysterium zu ergründen, wenn er sich im Rahmen der Essayreihe "Gedankenspiele" im Droschl Verlag auf die Spuren der Wahrheit heftet. Wie komplex, widersprüchlich, vielgestaltig, manchmal janusköpfig sich diese darstellt, ist die Quintessenz seiner Betrachtungen. Deren wahrer Reiz liegt aber in den unterschiedlichen Zugängen des Autors zum Thema. Hier ist tatsächlich der Weg das Ziel. Er endet im Mittelalter bei einer Hexenwaage in einer kleinen holländischen Stadt, die nie eine angeklagte Frau "überführt" hat und somit - als korrekt geeichtes Instrument in völlig irrationalen Diensten - zu einem Monument der Wahrheit geworden ist.
Alternative Realität
Setz eröffnet sein Traktat mit dem von ihm verehrten Publizisten und Autor Roger Willemsen (1955-2016). Dieser erzählt in seinem Reisebuch "Die Enden der Welt", wie der österreichische Dichter Franz Grillparzer bei Triest zum ersten Mal das Meer gesehen und in seinen Tagebüchern notiert habe: "So hatte ich’s mir nicht gedacht." Das suggeriert Enttäuschung und Verdruss und fügt sich bestens in das klassische Grillparzer-Bild - allein, die Wiedergabe ist nicht korrekt. Grillparzer war nämlich nicht, wie Willemsen suggeriert, enttäuscht vom Anblick des Meeres, sondern vielmehr - das zeigt die entsprechende Tagebuchpassage in ihrer überwältigten Ausführlichkeit - äußerst angetan. Was er sich "so nicht gedacht hatte", war die Schönheit des Meeres.
Was ist hier nun die Wahrheit? Faktisch unbestreitbar Grillparzers originale Tagebuchversion. "Aber etwas an der Version von Willemsen", schreibt Setz, "besitzt, wie mir scheint, ein eigentümliches Zweitrecht auf Wahrheit." Ist Wahrheit demzufolge also skalierbar? "Vielleicht nicht direkt, aber sie kann durchaus Nebenarme und Randzonen besitzen, die bereits recht wenig mit klassischer Wahrheit zu tun haben", antwortet Setz der "Wiener Zeitung".
Im Falle Willemsens nistet die "Wahrheit" seiner Darstellung in der Tatsache, dass sie eklatant besser zur miesepetrigen Persona Grillparzers passt als dessen originaler Tagebucheintrag. "Ich halte Willemsens Version nicht für eine gute Wiedergabe der Tagebuchstelle, aber für die vielleicht beste Kurzbiographie von Grillparzer, die es gibt", resümiert Setz im Essay und meint im Gespräch: "Vielleicht ,kennt‘ die leicht erlogene Version von Willemsen Grillparzer ihn in gewisser Weise besser als dieser sich selbst."
Im Falle von Albert Camus’ Roman "Der Fremde" ist es Setz selbst, der - wieder durch sinnverändernde Weglassung entscheidender Teile - eine alternative Version zur Realität erschafft. "Heute ist Mama gestorben. Oder vielleicht auch gestern, ich kann mich nicht erinnern." So hatte Setz viele Jahre lang den Anfang des Romans in Erinnerung: Dem Protagonisten ist offensichtlich das Ableben seiner Mutter so egal, dass er sich nicht einmal an dessen Zeitpunkt erinnern kann.
Die vermeintlich frappierende Indifferenz beruht indes auf einem unklar datierten Telegramm des Heimes, in dem die Mutter verstorben ist. Und mit einem Mal ist die zeitliche Unschärfe völlig plausibel. Und doch reklamiert Setz für "seine" Version des Anfangs auch einen Anspruch auf Wahrheit: In ihr wirke die existenzielle Entfremdung des Erzählers Meursault, gegen den im Prozess wegen Ermordung eines Arabers belastend verwendet wird, keine nennenswerte Regung beim Begräbnis seiner Mutter gezeigt zu haben, "auch retrograd, auf alles, was davor war", ein.
Diese Stimmigkeit könnte es ihm erleichtert haben, seinen eigenen Anfang zu "kreieren", auch wenn der Autor nicht genau rekapitulieren kann, welche geistigen Fliehkräfte hier am Werk waren. Setz im Gespräch: "Es ist schwer zu sagen, wie genau das in meinem Gedächtnis passiert ist. Ich vermute, es ist derselbe Mechanismus, der generell manche Dinge der Vergangenheit in unserem Kopf umschreibt, wenn sich unsere Einstellung dazu irgendwie ändert."
Die ganze Un-Fassbarkeit des Wahrheits-Begriffs, die Unmöglichkeit, ihn als Wesenheit in einen verbindlichen Rahmen zu pressen und seiner Perzeption universal gültige Regeln aufzuerlegen, zeigt sich so nachdrücklich wie subtil in einem Abschnitt, in dem Setz auf das dokumentarische Werk des Filmemachers Werner Herzog eingeht.
Unterscheidungen
Für diese Streifen, die also Realität - Wahrheit - abzubilden vorgeben, "Lektionen in Finsternis" etwa, "Wovon träumt das Internet?" oder "Flucht aus Laos" (original: "Litte Dieter Needs To Fly"), inszenierte der Regisseur Szenen, erfand Zitate, die von ihren vorgeblichen Urhebern nie getätigt worden oder in keiner Weise verbürgt sind. Solche Stilisierungen, ist Herzog überzeugt, haben nichts mit Fälschung zu tun, sondern können eine tiefere, elementarere, womöglich reinere Wahrheit vermitteln. Für diese Differenzierung trifft er eine Unterscheidung zwischen "Buchhalter-Wahrheit" und "ekstatischer Wahrheit".
Die These einer "ekstatischen", nicht zwingend von grauer Faktentreue limitierten Wahrheit muss verführerisch auf Menschen mit kreativer Begabung, also Menschen wie Clemens J. Setz, wirken. Und doch vermag der Grazer Autor Fälle zu benennen, wo just der pedantische Einsatz von buchhalterischer Wahrheit besondere Akzente setzen kann.
In seinem Gedicht "The Vision of Sin" schreibt Alfred Lord Tennyson, ein britischer Lyriker des viktorianischen Zeitalters: "Every moment dies a man / Every moment one is born." Diese Metapher beeinspruchte der geniale Mathematiker Charles Babbage, der mit der Erfindung einer Rechenmaschine erhebliche Wegbereiterdienste für die Computertechnologie geleistet hat, in einem Brief an Tennyson - aber nicht etwa wegen ihrer evidenten Plattheit, sondern weil sie einfach nicht stimme. Denn ihr zufolge müsse die Erdbevölkerung konstant bleiben.
In Wahrheit aber übertreffe die Geburtenrate die Sterberate um das 1-1/16-Fache. "Ich würde daher", empfahl Babbage dem Dichter, "vorschlagen, dass die nächste Version Ihres Gedichts so lauten sollte: ,Every moment dies a man / Every moment 1 1/16 is born." Streng genommen, fügte Babbage noch an, sei auch 1 1/16 nicht ganz korrekt, aber die richtige Zahl sei so lang, dass man sie gar nicht in eine einzige Zeile bringe. 1 1/16 sei "hinreichend exakt für die Zwecke der Poesie".
Als Autor beansprucht Setz, der zum Beispiel in seinem Roman "Indigo" selbst ein Verwirrspiel trieb, indem er auf den Klappentext schreiben ließ, er leide an "Spätfolgen" der titelgebenden, schulmedizinisch nicht existenten Krankheit, die Wahlfreiheit zwischen "buchhalterischer" und "ekstatischer" Wahrheit. Setz zur "Wiener Zeitung": "Ich hoffe, ich kann beide Spielarten der Wahrheit in meinen Büchern verwenden, ohne dass die eine für die andere verwechselt wird. Die Spielregeln müssen klar sein, finde ich. Definitiv ist aber bei mir die buchhalterische Wahrheit stärker vertreten."
In der Regel stellt sich Wahrheit als etwas zu Suchendes, zu Erstrebendes dar. Setz aber bringt am Beispiel des Doppelgänger-Phänomens eine Angst vor der Wahrheit ins Spiel. Seit er, berichtet Setz, einen langen Bart trage, begegne er regelmäßig Doppelgängern. Seine Erklärung ist denkbar einfach - "Männer mit Vollbart sehen irgendwie alle gleich aus" -, und er weiß auch, dass Doppelgänger, die jemandem auch in feineren Details ähneln oder gar gleichen, sehr selten sind.
"Dennoch gehört es", bekennt Setz im Essay, "zu meinen festen Glaubensartikeln, dass für jeden Menschen auf der Erde ein ziemlich perfekter Doppelgänger herumläuft, zu dem man in einer steten, unbewussten Antimaterie-Angst existiert, welche vielleicht von der Vermutung gespeist wird, dass beinahe perfekte Imitationen sich am Ende doch als echter und wahrer erweisen könnten als das ursprüngliche Wesen."
Der "echte" Chaplin
Unter "Antimaterie-Angst" versteht Setz im Gespräch übrigens "die Angst, dass jemand existieren könnte, der wie ich aussieht, aber der, wenn ich ihn berühren würde, mich und sich selbst zum Explodieren bringen würde". Realitätsverwurzelter ist die durchaus mit Anschauungsbeispielen aus der Markenartikel-, Kultur- und Unterhaltungsindustrie unterfütterte Sorge, dass Imitate bisweilen überzeugender und "echter" wirken können als die Originale. Das passierte etwa Charlie Chaplin, als er 1915 in einem Theater in San Francisco an einem Chaplin-Lookalike-Bewerb teilnahm, um anderen zu zeigen, "wie’s geht".
Er schied aus, als es daran ging, den berühmten Chaplin-Walk vorzuführen: Chaplin hatte sich so bewegt, wie er sich vor der Kamera immer bewegt hatte. Seine erfolgreicheren Kontrahenten aber hatten den ruckartigen, watschelnden Gang nachgeahmt, den die Leinwände infolge der Beschleunigung der Filmprojektoren wiedergegeben hatten.
Doppelgänger rühren, so suggeriert Setz (vereinfacht wiedergegeben), in uns eine womöglich evolutionär begründete Ur-Angst auf: Existierte da in unserer anzestralen Vergangenheit womöglich ein Wesen, das, je ähnlicher es uns sah, umso bedrohlicher wahrgenommen wurde, bis wir nur noch in Panik flüchten konnten, um ihm nicht zum Opfer zu fallen? "Vielleicht war es einfach der Anblick von Leichen?", schlägt Setz bei unserer Begegnung vor. "Das wäre eine weniger unheimliche Lösung für die von mir im Buch gestellte Frage."
Clemens J. Setz: Gedankenspiele über die Wahrheit. Literaturverlag Droschl, Graz 2022, 48 Seiten, 10,- Euro.
Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in Wien und ist ständiger Mitarbeiter der "extra"-"music"-Seite.