Protest gegen Regierung verlief zunächst friedlich. | Rechtsextreme lieferten sich Straßenschlacht mit Polizei. | Budapest. Die ungarische Hauptstadt Budapest ist in der Nacht von Montag auf Dienstag von den schwersten Protesten seit der Revolution von 1989 erschüttert worden.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 18 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Mehr als 10.000 Menschen gingen zunächst auf die Straße, um vor dem Parlament friedlich gegen die sozialdemokratische Regierung unter Premier Ferenc Gyurcsány zu protestieren. Mehrere hundert Demonstranten, darunter Vertreter der rechtsextremen Szene und Fußball-Hooligans, lösten sich im Laufe des Abends von der Menge und setzten zum Sturm auf das nahe gelegene Gebäude des Staatsfersehens an. Ein Teil dieser Demonstranten wird den Neonazi-Organisationen Jobbik, Honfoglalas 2000 und der Ungarischen Nationalen Front zugeordnet.
Sendung eingestellt
Die Menge griff das Gebäude des Senders MTV mit Steinen und Brandsätzen an, etwa 30 Personen gelang es, in das Haus vor zu-dringen. Ein halbes Dutzend Fahrzeuge, darunter ein Wasserwerfer der Polizei, ging in Flammen auf. Das öffentlich-rechtliche TV musste wegen der Attacke für 80 Minuten den Betrieb einstellen und konnte erst in den frühen Morgenstunden wieder das volle Programm fahren.
Am Dienstagmorgen lag eine gespannte Ruhe über der Donaumetropole, mittags enthüllten dann etwa 200 Oppositionsanhänger und Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen Plakate vor dem Parlament, auf denen sie die Beerdigung der Regierung forderten.
Auslöser der Proteste war eine zuerst vom Ungarischen Rundfunk veröffentlichte Originalaufnahme der Fraktionssitzung der ungarischen Sozialisten am 26. Mai in Balatonöszöd, bei der Gyurcsány eingeräumt hatte, dass die Bürger in den vergangenen anderthalb bis zwei Jahren belogen worden seien. Der Premier lehnte bisher persönliche Konsequenzen aus den Protesten ab.
Spekulationen über die Anführer der Proteste gingen in verschiedene Richtungen. In der breiten Öffentlichkeit wird jedenfalls die oppositionelle Fidesz-Partei als Initiatorin der Unruhen vermutet; die Rechtspartei unter Viktor Orbán forderte inzwischen den Rücktritt des Ministerpräsidenten.
Das Kabinett trat noch in der Nacht zu einer Krisensitzung zusammen, Meldungen, dass auch über die Ausrufung des Notstands beraten worden sei, wurden aber bisher nicht bestätigt. Gyurcsány selbst erklärte, es würden alle Möglichkeiten zur Beendigung der Proteste erwogen, und forderte die Bürger zur Beendigung der "rechtswidrigen Kundgebungen" auf. Der zuständige Justizminister Jószef Petrétei bot wegen der "zu geringen Zahl der aufgebotenen Sicherheitskräfte" seinen Rücktritt an, dies wurde aber von Gyurcsány nicht akzeptiert. Der Premier empfahl zuletzt, die Demonstrationen in Budapest weiterhin nicht als Wahlveranstaltungen einzustufen. Damit habe die Polizei das Recht, derartige Kundgebungen aufzulösen. Wahlveranstaltungen wären angesichts der Kommunalwahlen am 1. Oktober nicht genehmigungspflichtig.
Gyurcsány, der wegen eines drastischen Sparkurses seit seiner Wiederwahl im April bei den Bürgern rapide an Unterstützung verloren hat, hat in den vergangenen Tagen nochmals deutlich Sympathien eingebüßt. Sanfte Töne scheinen unter den aufgebrachten Budapestern einfach nicht angebracht. "Es ist einfach nur dumm, so etwas von sich zugeben, das macht man einfach nicht, und es wäre einfach nur richtig, ein Begräbnis für ihn (Gyurcsány) auszurichten", bringt eine Bürgerin ihre Meinung noch relativ diplomatisch auf den Punkt.
Mehr
Die umstrittene Rede im Wortlaut