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Budgetdisziplin kontra Wachstum

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik

Meinungen, wie Wirtschaft trotz Sparvorgaben angekurbelt werden kann, gehen auseinander.


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Brüssel. Ein Blick zurück und einer nach vorne. An einer Erinnerungsstätte in Westflandern begann das zweitägige Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EU, und eine Strategie für die Gemeinschaft in den kommenden Jahren war Thema beim Abendessen. Am Menen-Tor in der belgischen Stadt Ypern, an dem die Namen von fast 55.000 vermissten Soldaten des britischen Reiches eingraviert sind, gedachten die Politiker der Opfer der Jahre 1914 bis 1918 - des "Großen Krieges", wie er in Belgien genannt wird. Die Tuchhallen, die sie ebenfalls besuchten, sind eine Nachbildung: Das ursprünglich mittelalterliche Gebäude wurde vor hundert Jahren in Schutt und Asche gelegt.

Die EU als Gegenstück dazu, als Projekt zur Völkerverständigung und Friedenserhaltung war dennoch nicht Gegenstand der anschließenden Debatten. Vielmehr ging es neben Personalfragen um die künftige Ausrichtung der Union. So rangen die Staats- und Regierungschefs ebenso um die Besetzung von EU-Spitzenposten - in erster Linie des Amtes des Kommissionspräsidenten - wie um die künftigen Prioritäten der Gemeinschaft. Die hat Ratspräsident Herman Van Rompuy in einem Positionspapier in fünf Bereiche gegliedert, die unter anderem Wachstum, Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit, die Energieversorgung sowie den "Raum der Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit" umfassen.

Seit längerem schon mühen sich die Europäer, ihre Energiesicherheit zu erhöhen, und die Notwendigkeit dessen hat die Ukraine-Krise einmal mehr bestätigt. Denn die Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen schwächt die Position der EU ebenso wie die in Wirtschaftskreisen beklagten Energiekosten. Für Strom und Gas zahlen nämlich europäische Unternehmen doppelt bis dreifach so viel wie ihre Mitbewerber in den USA oder Asien. "Leistbare, sichere und grüne Energie" sollte daher laut Van Rompuy in den Fokus der Politiker rücken. Zu dem Zweck müssten der Binnenmarkt vollendet, die - nicht zuletzt länderübergreifende - Infrastruktur verbessert sowie die eigenen Ressourcen effizienter genutzt werden.

Debatte um Stabilitätspakt

Doch müssten die Staaten Geld für diese Investitionen finden. Und das fällt den meisten schwer, haben sie doch gleichzeitig Sparprogramme zu erfüllen. Wie trotzdem die Wirtschaft wieder angekurbelt und auch noch die drückende Arbeitslosigkeit bekämpft werden kann, beschäftigt die EU-Politiker ebenfalls seit geraumer Zeit. So rückte erneut der Wachstums- und Stabilitätspakt, der die Regierungen zu mehr Budgetdisziplin anhalten soll, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

In ihrem Schlussdokument sprechen sich die Gipfelteilnehmer für eine flexible Auslegung des Vertrags aus. Das Abkommen selbst solle nicht geändert werden, doch müsse die Haushaltskonsolidierung "wachstumsfreundlich und differenziert" fortgesetzt werden. Eine Balance zwischen Fiskaldisziplin und Unterstützung von Wachstum sei notwendig.

Dafür biete der Pakt Möglichkeiten genug, befindet Deutschland. Frankreich und Italien, das in der kommenden Woche für sechs Monate den EU-Vorsitz übernimmt, plädieren hingegen für größere Flexibilität. Die Sozialdemokraten, denen Staatspräsident Francois Hollande und Premier Matteo Renzi angehören, fassen das in der Formel "Reformen gegen mehr Zeit für den Defizitabbau" zusammen. Weiters sollten Investitionen in Forschung oder Arbeitsplatzschaffung unter Umständen nicht in die Schuldenberechnung fallen.

Die Meinungen über die Auslegung des Abkommens gehen unter den Mitgliedern auseinander. So gibt es etliche Staaten, die gegen eine Aufweichung der Regeln auftreten. Bis Jahresende soll die EU-Kommission eine Überprüfung der im Pakt fixierten Maßnahmen vorlegen.

Gerangel um Spitzenposten

Der Mann, der der Brüsseler Behörde dann vorstehen könnte, gehört zu denen, die stets vor "neuen Schuldenbergen" warnen. Der Christdemokrat Jean-Claude Juncker hat als damaliger Premier Luxemburgs und langjähriger Vorsitzender der Eurogruppe die Sparvorgaben für die EU-Staaten mitgetragen. Er war der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, die bei den EU-Wahlen vor einem Monat stimmenstärkste Fraktion im EU-Parlament wurde. Damit ist er nach Auslegung des Abgeordnetenhauses auch deren Kandidat für den Posten des Kommissionspräsidenten. Einen alternativen Bewerber, auf den sich die Staaten bisher untereinander geeinigt hatten, will die Volksvertretung nicht mehr so einfach akzeptieren.

Das wiederum gefällt dem britischen Premier David Cameron nicht, der Junckers Nominierung einen schweren Fehler nennt. Darum forderte Cameron für das Gipfeltreffen etwas ein, was sonst nicht üblich ist: Am heutigen Freitag soll es vor der Nominierung des Kommissionspräsidenten eine Kampfabstimmung geben. Nein zu Juncker könnte dabei neben Cameron wohl nur sein ungarischer Amtskollege Viktor Orban sagen. Das kommentierte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gelassen: Es wäre kein Drama, wenn das Votum nicht einstimmig sei.

Für die Nominierung ist eine qualifizierte Mehrheit nötig. Auch andere Spitzenposten, wie jene des Ratspräsidenten oder EU-Außenbeauftragten, sind in den kommenden Wochen zu besetzen. Dafür soll am 17. Juli ein Sondergipfel einberufen werden.