Zum Hauptinhalt springen

Bulgarien rebelliert

Von WZ-Korrespondent Frank Stier

Politik

Erstmals eskalierten Proteste gegen das politische Establishment.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Sofia. Hässliche Szenen in Sofias Regierungsbezirk: Im Schein der Straßenlaternen zwischen der Alexander-Newski-Kathedrale und der Volksversammlung stemmen sich überforderte Polizisten gegen zahlenmäßig überlegene Demonstranten. Die Ordnungshüter sollen einem Reisebus den Weg bahnen, in dem die Minister für Finanzen, Wirtschaft und Soziales sowie Abgeordnete der sozialistisch geführten Regierung sitzen. Gellende Pfiffe und "Mafia!, Mafia!"-Rufe erzeugen ohrenbetäubenden Lärm, schließlich entlädt sich die Spannung in Steinwürfen auf den Bus und Schlagstockprügel auf Köpfe Protestierender. Nachdem Scheiben am Fahrzeug zu Bruch gegangen sind, dreht der Chauffeur um und bringt die Politiker zurück zum Parlament. Dort harren sie bis zum Morgengrauen aus. Der sozialistische Volksvertreter Anton Kutev zeigt einen in den Bus geschleuderten Stein in die Fernsehkamera: "Mit dem kann man Menschen töten", sagt er kopfschüttelnd.

Mit der Blockade des Parlaments hat die Gruppierung "Dans With Me" 40 Tage nach der Gründung ihre Unschuld verloren. Sie ist inzwischen offiziell Bulgariens ausdauerndste Protestbewegung seit dem Sturz des kommunistischen Regimes im November 1989. Ihre Initialzündung erlebte sie am 14. Juni 2013 in Reaktion auf die umstrittene Berufung des zwielichtigen Medienoligarchen Deljan Peevski zum Chef des Geheimdienstes Dans. Seitdem hat sie täglich durch friedliche und fantasievolle Aktionen den Rücktritt der von Ministerpräsident Plamen Orescharski geführten Koalitionsregierung aus Sozialisten und Vertretern der Türken-Partei gefordert.

Wer die Verantwortung für den Sündenfall der Ausschreitungen mit Verletzten auf beiden Seiten trägt, ist strittig. Wirft das Bulgarische Helsinki-Komitee der Polizei "Übergriffe gegen friedliche Demonstranten" vor, so lobt Innenminister Tsvetlin Jovtschev "die besonnene Reaktion der Beamten auf die Aggression der Demonstranten". Und Sprecher der Protestbewegung wollen "Agents Provocateurs" gesehen haben, wie sie Steine warfen und mit Gehwegplatten Barrikaden bauten.

Diese Schuldfrage dürfte nur kurz kontrovers diskutiert werden, wesentlich länger noch die Frage, wie Bulgarien aus seiner seit fast zwei Monaten andauernden politischen Blockade herausfinden kann. Für die Dauerdemonstranten liegt die einzig mögliche Antwort im sofortigen Rücktritt des Kabinetts Orescharski, der Regierungschef selber schließt seine Kapitulation aber kategorisch aus. "Wie wir gesehen haben, nimmt Gerb wieder an der Parlamentsarbeit teil und sofort kommt es zur Radikalisierung des Protests. Offensichtlich möchte jemand den Sturz der Regierung um jeden Preis und Neuwahlen so schnell wie möglich erzwingen", schiebt Sozialistenführer und Ex-Ministerpräsident Sergje Stanischev dem politischen Gegner die Verantwortung zu.

Bulgarien steht seit dem Jahresbeginn im Bann einer politischen Dauerkrise. Im Februar trat das gesamte Kabinett des bürgerlichen Premiers Bojko Borissow zurück, davor hatte es massive Proteste gegen die Sparpolitik der Regierung gegeben. Die landesweiten Aktionen richteten sich unter anderem gegen hohe Stromrechnungen und das Monopol ausländischer Stromanbieter, zu denen auch die niederösterreichische EVN zählt.

Bei den Wahlen im Mai war die Borissov-Partei Gerb aus der Parlamentswahl zwar als stärkste Kraft hervorgegangen, konnte mangels Koalitionspartner aber keine Regierung bilden. Borissov erklärte daraufhin die Wahlen für unrechtmäßig, nach der Wahl Peevskis zum Dans-Chef zog er mit seiner Fraktion aus dem Parlament aus.

"Oligarchen-Büttel"

Auch wenn unter den den Sturz Orescharskis fordernden Demonstranten einige Borissov-Anhänger zu finden sind - seine Partei kann aus der Krise kaum Kapital schlagen, läuft derzeit doch die Aufarbeitung ihrer dreieinhalb Jahre langen Regierungszeit. In der letzten Woche präsentierte die Staatsanwaltschaft der Öffentlichkeit das Notizbuch des von Gerb ernannten Chefs der Kommission zur Vermeidung von Interessenskonflikten. Die darin enthaltenen Aufzeichnungen scheinen zu belegen, dass diese Kommission von Gerb gezielt zu Attacken politisch Ungenehmer missbraucht worden ist. Für Ende dieser Woche wird mit der Anklageerhebung gegen Ex-Innenminister Tsvetan Tsvetanov wegen ungesetzlicher Lauschangriffe gerechnet.

Zahlreiche europäische Politiker haben in den letzten Wochen an ihre bulgarischen Kollegen appelliert, eine einvernehmliche Lösung der Staatskrise zu suchen. Doch nichts deutet momentan darauf hin, dass sich die beiden größten Parteien Gerb und Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) zum Wohl des Landes zu einer großen Koalition bereitfinden könnten. "Europa hat kein Recht, den Rücktritt einer Regierung zu wollen. Die Menschen müssen eine Regierung schaffen, der sie vertrauen", sagte die stellvertretende EU-Kommissions-Präsidentin Vivian Reding am Dienstag bei einer Begegnung mit Bürgern im Militärclub Sofia. Das Ausmaß der Politikverdrossenheit der Bulgaren haben die letzten zwei Wahlen dokumentiert, nur jeder zweite Wahlberechtigte hat an der Parlamentswahl im Mai teilgenommen, nur jeder vierte bei der Bürgermeisterwahl in Varna im Juli.

Seit ihrem Beitritt zur Europäischen Union im Jänner 2007 erhoffen sich viele Bulgaren von der EU Beistand gegen ihre nationalen Politiker, denen sie fraktionsübergreifend vorwerfen, nicht im Dienste der Bürger zu stehen, sondern Büttel der Oligarchen zu sein. Um das bisherige Parlamentsmonopol der gleichermaßen etablierten wie diskreditierten Parteien zu brechen, fordern die Protestierenden eine Änderung des Wahlgesetzes. Elemente der Mehrheitswahl und zusätzliche Mechanismen der Bürgerkontrolle sollen Bulgarien nach dreiundzwanzig Jahren Dauerkrise einen "Re-Start" ermöglichen.