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Bürger im Zwielicht

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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Kein System ist perfekt. Von daher lässt sich trefflich über die Vor- und Nachteile einer Stärkung der direkten Demokratie streiten. Diese sachliche Auseinandersetzung ist nötig. Unter der Oberfläche der Debatte um direkte Demokratie geht es jedoch um etwas sehr viel Grundsätzlicheres: Im Kern dreht sich alles um das Bild vom Bürger und von seiner Rolle in der Politik.

Wer ist der Souverän? In einer Demokratie das Staatsvolk. Von daher haben es sich die Politiker bei feierlichen Anlässen angewöhnt, von den Bürgern als dem Souverän und von sich selbst als Diener der Demokratie zu sprechen.

Natürlich ist dies maximale Koketterie. Das Bundes-Verfassungsgesetz setzt das Parlament ins Zentrum der Politik. Als letzte Instanz in Sachfragen sind die Bürger in Österreich allein bei Volksabstimmungen am Zug, und auch dort können sie nur über eine bereits verabschiedete Gesetzesvorlage abstimmen.

Es gibt viele gute Gründe, warum die Verfassungsordnung grosso modo so bleiben sollte, wie sie derzeit ist, und etliche bedenkenswerte Argumente dafür, die Rolle der Bürger zu stärken. Bei vielen Kritikern einer stärkeren Einbindung der Bürger schwingt jedoch ein tiefes und grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Verführbarkeit der Menschen mit. Von der Wiedereinführung der Todesstrafe (was rechtlich aufgrund der Menschenrechtskonvention unmöglich wäre) über den endgültigen Triumph des Populismus bis hin zur Wiederkehr eines autoritären Regimes wird den Bürgern fast alles zugetraut.

Sollten diese Vermutungen und Unterstellungen auch nur annähernd mit der Wirklichkeit zu tun haben, wäre dies eine erschütternde Bestandsaufnahme zum 100. Jahrestag der Republik, der kommendes Jahr ansteht. Von "feiern" könnte in diesem Fall wohl kaum die Rede sein, wenn die demokratische Gesinnung der Bürger auf derart dünnem Eis fußen sollte.

Die Bürger können sich aber damit trösten, dass es den Abgeordneten zum Nationalrat auch nicht besser geht. Die sind in den Augen mancher Parteioberen auch nicht viel vertrauenswürdiger. Weshalb Österreich nicht nur eine Mitbestimmungskultur aufweist, die ausbaufähig ist, sondern auch einen Parlamentarismus, der dringend einer Stärkung bedarf. Und wer beides für unvereinbar hält, hat nicht verstanden, dass eine Demokratie selbstbewusste Bürger und ebensolche Mandatare benötigt.