Viel zu lange haben falsche Gesellschaftstheorien den Ton angegeben. Das Ergebnis ist Orientierungslosigkeit. Dabei hätte die Soziologie gültige Antworten parat.
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An die Tore der Hochburg der neoliberalen Wirtschaftsgesinnung, auf dem Haupteingang der London School of Economics, hat im Oktober 2017 eine Gruppe von Studenten, Vertretern internationaler Forschungsinstitute und Professoren eine Petition, bestehend aus 33 Punkten, genagelt, wonach die Ökonomie als solche unbrauchbar sei. Sie kann nicht funktionieren, sie greift nicht, weil ihre Grundfesten falsch seien.
Die Aktion erfolgte am 500. Reformationstag (31. Oktober) und erinnerte an Luthers Anschlag der 95 Thesen an der Wittenberger Schlosskirche 1517 - und hat großes Echo hervorgerufen. Sie war ein - zehn Jahre nach der Weltwirtschaftskrise - formulierter Streich, ein Happening, aber auch ein bisschen mehr. Dass der Neoliberalismus eine falsche Theorie ist, war für viele vollkommen klar. Pierre Bourdieu und andere Soziologen haben bereits 1998 in ihrem Buch "Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion" erklärt, dass diese Theorie katastrophale Folgen haben wird.
Die Londoner gingen einen Schritt weiter: Nicht nur der Neoliberalismus ist falsch, sondern sämtliche anerkannte Wirtschaftstheorien, weil alle auf Angebot und Nachfrage basieren.
Symbolische Werte
Die Petition nennt auch den grundlegenden Punkt, weswegen keine Wirtschaftstheorie richtig sein kann: den Kredit. Banken verleihen kein wirkliches Geld, Kredite haben nämlich keine finanzielle, sondern nur eine rechtliche Grundlage. Kredite werden erst dann zu richtigem Geld, wenn sie zurückgezahlt werden, weil die Zinsen und Rückführungen meist tatsächlich verdiente reale Summen sind. Bei der Kreditvergabe müssen sich Banken nicht refinanzieren. Hinter dem Kredit stecken lediglich wenige Prozente an wirklichem Geld. Dies unterscheidet sich länderweise, in der EU müssen Kreditinstitute beispielsweise eine Eigenkapitalquote von acht Prozent aufweisen. Der Rest ist Illusion, ist nicht real.
Eine der beachtenswerten Forderungen der Petition ist, dass die Wirtschaftswissenschaften symbolische Werte sowie die Wirkung der Politik und der Gesellschaft auf die Ökonomie berücksichtigen sollen. Die Petition betont, dass Gesellschaftsanschauungen ebenfalls geändert werden müssen.
An die Tür jedes soziologischen Instituts könnte man eine ähnliche Petition nageln. Nur der Bankrott dieser Wissenschaft ist schon längst bekannt und würde weniger Menschen interessieren. Die Soziologie wird im Allgemeinen als zu abstrakt, schwerfällig und langweilig angesehen. Zu welchem Behufe würde man überhaupt eine neue Gesellschaftstheorie benötigen? Was geht diese Wissenschaft den Mann von der Straße an?
Die Antwort ist einfach: Gesellschaftstheorie ist wie Filmmusik: sie verbirgt sich hinter jeder Szene, weckt Gefühle und Spannungen, sie ist nicht nur Untermalung, sondern gibt dem Film Bedeutung, führt und generiert die Emotionen des Zuschauers. Ähnlich verhält es sich mit der Vorstellung über die Gesellschaft. Ohne eine mit der Realität übereinstimmende Gesellschaftstheorie kann nichts verstanden werden. Ohne diese irren Politiker und ihre Wähler gleichermaßen umher, Gruppen opfern sich auf dem Altar falscher Götter, Institute richten viel Übel an und Staaten verwickeln sich in Kriege.
Unser Zeitalter ist von einer rätselhaften Ratlosigkeit erfüllt. Allerlei wirre Ideologien sind im Umlauf, und es scheint, als ob sie gut miteinander auskommen. In Wohnzimmern sitzt friedlich neben dem Kruzifix die Buddhastatue. Chauvinistische Fußballfans verehren ihre Stars mit anderer Hautfarbe, die nicht einmal ihre Sprache sprechen. Ebenfalls merkwürdig ist, dass viele Homosexuelle die Toleranz ablehnen, weil sie nicht nur ihnen, sondern auch Frauen Rechte verschafft.
Mit dem Widerspruch der Ideologien paart sich eine aggressive Mentalität. Zuwanderer verachten Zuwanderer anderer Nationalitäten. Einheimische verachten das Andersartige - und die Anderen die noch mehr Andersartigen. Medien verbreiten geschichtlich ausgebrannte Ideologien ebenso wie frisch gebackenen Unsinn. Frauen verlangen im Namen der Gleichberechtigung statt einer familiären eine in der Arbeitsteilung verwirklichte Ausbeutung.
Die Menschheit legt die Menschlichkeit ab, jene Eigenschaft, mit der sie sich lange Zeit definieren konnte. Und die Kunst? - Die wird längst allein aufgrund ihres finanziellen Erfolgs bewertet. Heute ist lediglich ihr Preis ausschlaggebend. Im Überfluss der Ideologien und bei der Gleichgültigkeit des Alltagsmenschen fällt nicht auf, dass etwas Essenzielles fehlt, nämlich eine Gesellschaftstheorie, die der Wirklichkeit einen Sinn gibt.
Die Generation unserer Eltern und Großeltern hat noch an etwas geglaubt, es gab noch Ost und West, sie dachten, dass die Gegensätze alle(s) in Bewegung halten. Das hat sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs geändert. Im Osten wie im Westen haben die bis dahin gültigen Gesellschaftstheorien, die unser Sein auf beiden Seiten jeweils anders, aber ursächlich bestimmt haben, ausgedient. Ideologien sind nicht mehr an die soziale Wirklichkeit gebunden, sie sind von den gesellschaftlichen Tatsachen entkoppelt.
Ideologien, Mentalitäten und Ethik befinden sich in Schwebe, ohne Anhaltspunkt und ohne Rückgrat. Die Frage ist nicht, welche unter ihnen gut oder richtig ist, sondern warum es keine gesellschaftliche Vorstellung gibt, die all das ordnen kann?
Nationalismus und Rassismus erleben eine Renaissance, und unter dem Vorwand der Toleranz keimt blinder Hass. Über uns kreisen gesellschaftliche Irrglauben wie Geier, obwohl deren Unheil die Geschichte selbst bewiesen hat. Die Soziologie wiederum hat sich seit den 1970er Jahren in den Elfenbeinturm zurückgezogen, um die Gesellschaft von einer Metaebene zu beobachten und die Realität bei orientierungslosen gesellschaftlichen Akteuren zu erfragen. Die Konsequenz dieser raffinierten Methode ist, dass in der Beziehung zwischen Soziologie und Politik der Blinde den Augenlichtlosen führt.
Parteien sind Ideologien nicht mehr verpflichtet, politische Entscheidungen werden aufgrund kurzfristiger Möglichkeiten und pragmatischer Chancen gefällt. Sie wählen Ad-hoc-Themen, von denen sie hoffen, Vorteile lukrieren zu können. Parteien suchen oft verzweifelt nach verkaufbaren Ideologien. Es gibt kein Ziel, nicht einmal eine Richtung, die Welt begibt sich in eine Art politischen Blindflug.
Falsche Konflikttheorien
Es führte zu verfehlten Ideologien, dass die Hauptströmungen der Gesellschaftserklärungen des 20. Jahrhunderts, die Konflikt-theorien, falsch waren. In den vergangenen hundert Jahren wurden unaufhörlich Konflikte zwischen Klassen, Rassen, Religionen und Ökonomien verkündet. Diese "Lehren" sind, wenn sich die Möglichkeit bot, auf dem Rücken politischer Bewegungen an die Macht gekommen. Sie stützten sich auf Vorurteile und schlummernden Hass, die dann jeweils auch mit elementarer Kraft ausgebrochen sind.
Obwohl falsche Gesellschaftstheorien viel Unheil gebracht haben, bedeutet das keineswegs, dass keine richtige entstehen kann. Im Zeitalter revolutionärer technischer Erneuerungen sind für die Geistes- und Sozialwissenschaften ihre außerordentliche Unterentwicklung, ihre gleichgültige Rückständigkeit und ihr vulgäres Wuchern kennzeichnend.
Kleinkarierte akademische Platzhalter, Epigonen und Gedankenhüter mit Ärmelschonern ritualisieren anerkannte Lehren und übernehmen einander übertönend modische und "politisch-korrekte" soziologische Gemeinplätze, als wären diese der Stein der Weisen.
Die Menschheit macht oft Umwege und beharrt auf längst Widerlegtem. Beispielsweise waren in Nordamerika vor über 100 Jahren elektrische und benzinbetriebene Autos fast in gleicher Anzahl vorhanden (40 zu 60 Prozent im Jahr 1912). Die Menschheit hat ein Jahrhundert und eine ruinierte Ökologie dafür benötigt, dass sie die Rückkehr der Ausgangs- situation ersehnt. 200 Jahre hat es auch gedauert, bis man offiziell anerkannt hat, dass die Erde nicht flach ist, dass sie sich bewegt - und das Weltall sich nicht um sie herum dreht . . .
Rückkehr zu Max Weber
Ähnlich ist die Situation in den Sozialwissenschaften. Die richtige Antwort ist längst gegeben worden. Bereits vor rund 100 Jahren zeigte Max Weber, dass Gesellschaften nicht von Konflikten bestimmt werden, sondern Gesellschaftsgruppen in einer Symbiose mit verbindlichen Konstellationen arbeiten und leben. Weber zeichnete ein beamtenzentrisches Weltbild.
Er wird oft zitiert, meistens seine Typisierung der Herrschaft, was eine einzige Seite aus seinem 20.000 Seiten umfassenden Werk ausmacht. Oft wird auch nur der Teil eines Titels zitiert, nämlich der Ausdruck "protestantische Ethik", mehr schafft nicht einmal der Fachkanon. Anerkannt sind zwar seine Werke, aber vergessen der Grundsatz, dass Gesellschaften erst durch bürokratische Ordnungen verständlich werden.
Es stimmt zwar, dass sich im 20. Jahrhundert vieles geändert hat. Es hat sich herausgestellt, dass Werte keine verbindliche Gültigkeit haben, sie können jederzeit ausgetauscht werden, und es ist lediglich eine romantische Fiktion, dass Werte die Geschichte beeinflussen. Des Weiteren hat sich eine neue gesellschaftliche Gruppe herausgebildet, jene der Manager, und auch das Unternehmertum hat sich stark ausdifferenziert. Ferner wird die Struktur der Gesellschaft durch die neuartige Kommunikation grundlegend beeinflusst.
Trotz oder eben vielleicht wegen der vielen Änderungen ist bürokratische Ordnung die entscheidende Größe, die für Beständigkeit sorgt. Dies steht in einem krassen Unterschied zu theokratischen oder industriell unterentwickelten Staaten. Eine Gesellschaftstheorie muss daher von dieser bürokratischen Ordnung ausgehen, sofern sie ihren Gegenstand wirklich verstehen will. Und die Politik benötigt eine solche, der Realität verpflichtete Soziologie mehr denn je.
Peter D. Forgács, geboren 1959, ist promovierter Hungarologe, Musikwissenschafter und Soziologe (Universität Wien). Er lebt als freiberuflicher Sozialwissenschafter in Wien. 2016 ist sein Buch "Der ausgelieferte Beamte – Über das Wesen der öffentlichen Verwaltung" bei Böhlau erschienen.