Der römische Kaiser Caligula verhöhnte Senat und Militär. | Dafür büßt er bis heute.
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Hemmungsloser Sadist, watend im Blut der Senatoren; deren Frauen zur Prostitution gezwungen; ein Pferd zum Senator gemacht; die Armee Muscheln einsammeln lassen statt mit ihr nach Britannien zum Feldzug übergesetzt; mit der Schwester Inzest begangen. Caligula, der Wahnsinnige. Caligula, das Scheusal. Caligula, der Dämon auf dem Caesarenthron. Oder doch Caligula, der Verleumdete? Caligula, der Missverstandene?
Kein Mensch kann sich von seinem ethischen Hintergrund lösen. Für die Geschichtsschreibung, genauer: für die Beurteilung historischer Gestalten bedeutet das bisweilen ein unüberwindliches Hindernis. Anders gesagt: Die Geschichtsschreibung legt falsche Maßstäbe an.
Unsere Zivilisation ist jüdisch-christlich geprägt. Der fanatischste Atheist wird das laufende Jahr als 2012 bezeichnen auch dann, wenn er das "nach Christus" nicht mitdenkt oder es durch "unserer Zeitrechnung" ersetzt, was aber nichts anderes bedeutet als eben "nach Christus". Derselbe fanatische Atheist wird auch, zumindest so er kein Verbrecher oder Geisteskranker ist, nicht Menschen umbringen, denn er steht unter dem fünften Gebot des jüdisch-christlichen Alten Testaments, das da lautet: Du sollst nicht töten.
Caligula als Spaßvogel?
Was aber, wenn in einer Gesellschaft diese jüdisch-christliche Ethik keinerlei Bedeutung hat? Was, wenn die Gebote, sofern sie überhaupt bekannt sind, lediglich als der Kodex eines Barbarenvolks gilt, mit dessen Angehörigen man stets Scherereien hat?
Bei den Völkern des präkolumbianischen Südamerika versucht die Geschichtsschreibung, die tausenden und abertausenden Menschenopfer als kulturimmanent wegzudiskutieren. Dieselbe Geschichtsschreibung erklärt jedoch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den römischen Kaiser Caligula bis zum heutigen Tag unverändert zur reißenden Bestie der Antike, zum irren Herrscher, an dem sich das Wort Caesarenwahn bis in die Gegenwart misst.
Wenn aber dieser Caligula ganz anders gewesen wäre? - Ein Spaßvogel nämlich, ein Satiriker auf dem römischen Thron?
Versuchen wir einen neuen Blick auf diesen Caligula, dessen Geburt sich am 31. August zum 2000. Mal jährt. Versuchen wir dabei, nicht nur die Uhr zurückzudrehen, sondern für die Dauer der Betrachtung auch unsere christliche Ethik abzulegen, die uns im antiken Rom zu jener Zeit als Angehörige des Sklavenstandes ausgewiesen hätte oder bestenfalls als sonderbare Anhänger einer dubiosen jüdischen Sekte.
Versuchen wir vor allem uns klarzumachen, dass im antiken Rom das menschliche Leben als solches keinen Wert hat, sondern dass sich sein Wert nach seiner Nützlichkeit bemisst und durch einen tapferen Tod beträchtlich aufgewertet wird. Zu vermeiden ist lediglich ein schmählicher Tod, etwa eine Kreuzigung, die eigentlich nur Sklaven zukommt. Solch ein Tod zieht die "Damnatio memoriae" nach sich, die Verbannung aus dem Gedächtnis, während ein guter Tod, auch nach einem weniger guten Leben, im Gedächtnis bleibt, überliefert wird und somit für das Eingehen in die Ewigkeit sorgt. Man erinnert sich sogar, sind sie tapfer gestorben, der Gladiatoren.
Solch ein lockerer Umgang mit dem eigenen Leben kann auch zu einem lockeren Umgang mit dem Leben anderer führen. Wenn es dem eigenen Leben dienlich ist, das eines anderen auszulöschen, passt man nur auf, nicht erwischt zu werden, um juristische Komplikationen zu vermeiden, wie die Forderung nach Schadenersatz. Im Strafrecht existiert der Tatbestand "Mord" noch lange nicht.
Der am 31. August des Jahres 12 geborene Gaius Caesar Augustus Germanicus, der als Kind in Soldatenstiefeln umherläuft und nach deren Bezeichnung "caligae" den Spitznamen "Caligula" bekommt, ist durch seine Mutter der Urenkel von Kaiser Augustus. Sein Vater Germanicus, Großneffe des Augustus, war der große Hoffnungsträger für die Caesarenwürde, starb jedoch unter merkwürdigen Umständen. Caligulas Mentor ist der schwermütige und wohl auch sexbesessene Kaiser Tiberius, der am 16. März 37 in seinem Palast auf Capri stirbt. Ob Caligula dabei mitgeholfen hat, wie, unter anderen, der britische Dichter und Historiker Robert von Ranke-Graves in seinem Roman "Ich, Claudius, Kaiser und Gott" ausführt, ist umstritten.
Ein idealer Herrscher?
Die ersten sechs Monate verkörpert Caligula den idealen Herrscher: Er senkt Steuern, beendet die von Tiberius begonnenen Hochverratsprozesse, veranstaltet Wagenrennen und Gladiatorenkämpfe. Dann erleidet er eine Krankheit, die laut antiken Autoren die Lichtgestalt vom Scheusal trennt. Ob es ein Nervenzusammenbruch oder eine Gehirnhautentzündung war, ist ungeklärt, die beschriebenen Symptome könnten auf beides zutreffen. Ob das Leiden tatsächlich einen tiefgreifenden Wandel der Persönlichkeit bewirkte, ist allerdings fraglich. Vielleicht benützte Caligula das Gebrechen lediglich, um über sich selbst nachzudenken und sich neu zu definieren - eine durchaus moderne Selbsterfindung möglicherweise.
Was nun folgt, trägt Caligula jedenfalls den denkbar übelsten Leumund ein. Aber ist dieser wirklich berechtigt? Die römische Geschichtsschreibung ist einseitig, ihre Autoren sind Senatoren oder stehen deren Kreisen nahe. Der römische Senat ist nicht mit dem Parlament einer Demokratie vergleichbar. Vielmehr ist er die Vertretung der Oligarchie, des nach der eigenen Bereicherung trachtenden Adels. Der Kaiser hingegen vertritt den populus, das römische Volk insgesamt, ohne Unterschied des Standes.
An diesem Volk nun hat Caligula keinen Verrat begangen, denn seine Aktionen richten sich ausschließlich gegen die Senatoren. Deren Rolle gegenüber dem Kaiser ist eine Mittelposition aus Speichelleckerei und im Grunde machtloser Opposition. Dies nützt Caligula, um die Senatoren zu verhöhnen, und sein angeblicher Wahnsinn hat Methode: Er demütigt sie, indem er ihnen ihre völlige Machtlosigkeit vor Augen führt, lässt sie auf schmähliche Weise hinrichten, führt ihnen das von ihnen mitgetragene Sittenbild Roms vor Augen, indem er ihre Frauen zur Prostitution zwingt, und ironisiert ihre angebliche Weisheit, indem er das Pferd Incitatus zum Senator vorschlägt.
Mit keiner dieser Aktionen verstößt Caligula gegen römische Grundwerte - mit Ausnahme der bis dahin geltenden stillschweigenden Übereinkunft, dass Senatoren auch vom Kaiser würdig zu behandeln sind. Caligula jedoch holt sie vom Podest und zieht sich den Hass der ihnen hörigen Geschichtsschreibung zu.
Ein Kriegsverächter
In einem anderen Punkt verstößt Caligula allerdings durchaus gegen das römische Selbstverständnis: Er hält nichts vom Krieg. Ein ungeschriebenes Gesetz verpflichtet den Kaiser zu kriegerischen Unternehmungen, um das Imperium zu vergrößern. Caligula lässt eine Armee antreten, um das stets aufmüpfige Britannien zu unterwerfen - doch er setzt nicht über den Kanal, sondern lässt die Soldaten Muscheln einsammeln. Wieder in Rom sagt er, er habe dem Meeresgott Neptun seine Schätze entrissen. Und verhöhnt damit den römischen Götterkult ebenso wie militärische Aktionen an sich.
Hingegen setzt der angeblich irre Kaiser in außenpolitischen Belangen auf Diplomatie und kluge Personalpolitik. Die Probleme in Judäa etwa löst er, indem er den romfreundlichen Herodes Agrippa als zwischen Römern und Juden vermittelnden König einsetzt. Vespasian und Titus werden später das Judäa-Problem mit einem bis dahin beispiellosen Judenmord zu lösen versuchen.
Spätestens im Jahr 40 haben die Senatoren genug von einem Kaiser, der sie nicht achtet. Eine Verschwörung von Senatoren führt zur Ermordung Caligulas am 24. Jänner 41. Sein Nachfolger ist der klug taktierende Claudius.
Caligula jedoch geht als Paradebeispiel des Caesarenwahnsinns in die Geschichtsschreibung ein - in die römische, weil der Senat Rache nimmt, und in die neuzeitliche, weil die antiken Vorwürfe unter den Aspekten einer im christlichen Sinn grundlegend gewandelten Ethik uminterpretiert werden. Nur Kaiser Nero wird der Zorn der Historiker unter ähnlichen Aspekten noch schlimmer treffen. Die Judenmörder Titus und Vespasian hingegen gelten als vorbildliche Herrschergestalten. Bis heute.