Großbritannien gilt für viele Immigranten als gelobtes Land. | Trostlose Zustände in Elendsquartieren bei Calais. | Frankreich plant hartes Durchgreifen. | Calais. Es ist um die Mittagszeit. Auf einem staubigen Parkplatz in der Nähe des Hafens der französischen Stadt Calais beginnt sich eine Gruppe Männer zu versammeln. Erst sind es nur wenige, bald werden es hunderte. Es sind vor allem Afghanen, die an der Küste Frankreichs gestrandet sind. Einige kommen auch aus dem Irak, dem Iran, Somalia oder Eritrea. Sie wollen nach Großbritannien, das am Hindukusch offensichtlich den Ruf vom "El Dorado" genießt, wie Marie-Ange Lescure vom UNHCR erzählt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
In Lastwagen oder darunter geschnallt wollen sie das gelobte Land erreichen, wo man keinen Personalausweis braucht, um einen Job anzunehmen. Alle 30 Minuten geht eine Fähre nach Dover, drei- bis viertausend Lkw setzen jeden Tag über. Dabei schiebt Großbritannien illegal Eingewanderte, die erwischt werden, viel gnadenloser ab als Frankreich. Doch diese Warnung verhalle bei den meisten, bedauert die UNHCR-Mitarbeiterin. Viele der Betroffenen sind bereits in Griechenland erstregistriert und müssen früher oder später wohl dorthin zurück. Und Chance auf ein Bleiberecht gibt es dort so gut wie keine. Die Anerkennungsquote im Jahr 2007 lag bei 0,5 Prozent.
Ausspeisung für die Dschungelbewohner
Anlass der Versammlung am Parkplatz ist die Ausspeisung der regionalen Hilfsorganisation "La Belle Etoile". 500 Portionen hätten sie verteilt, sagt Madou Hamain hinterher. Als sie das erste Mal vom Schicksal der hungernden Menschen am Rand der wohlhabenden Stadt erfahren hat, habe sie geweint, sagt die ältere Dame mit den wachen Augen. Einen Brei aus Erdäpfeln, Kohl, Sellerie, Zwiebeln und Reis, eine Banane sowie ein Stück Baguette gibt es für jeden. Das ist oft der einsame Höhepunkt im Tagesablauf der Heimatlosen - zumindest für jene, die sich aus ihren Verstecken zur Essensausgabe trauen.
Denn geschätzte 800 von ihnen verschanzen sich in den Büschen am Strand von Calais, 1600 sollen es an der gesamten Nordküste der Grande Nation sein. Immerhin rund 200 pro Monat gelingt die Überfahrt, schätzt das UNHCR. Viele sind weniger als 18 Jahre alt. Sie hausen auf einer Art riesiger Müllhalde, die das Ginstergestrüpp nur auf den ersten Blick verbergen kann. "Dschungel" nennen sie diesen trostlosen Landstrich, der von Menschenhändlern beherrscht wird.
Menschenhändler mit Moschee aus Planen
Die Schlepper betreiben dort auch eine Minimalversion eines Restaurants und eine aus blauen Plastikplanen improvisierte Moschee für die afghanischen Kunden. Jede Hilfestellung lassen sie sich teuer bezahlen. Schon die Anreise koste zwischen 4000 und 15.000 Euro, schätzt Lescure. Bis zu zehn Personen teilen sich in dieser finalen Zwischenstation die notdürftig zurechtgezimmerten Verschläge aus Karton, Holzabfällen und Decken. Mit Plastikfolien wird versucht, den Regen auszusperren, sanitäre Einrichtungen existieren praktisch nicht. Ein Wasserhahn muss für alle reichen, zuletzt erschwerten um sich greifende Hautausschläge die ohnehin verzweifelte Lage.
Kein guter Platz sei das, meint der 16-jährige Mahmadar aus Dschalalabad. Daheim hätten die Taliban seinen Vater ermordet und die Schule geschlossen. Er habe nur die Wahl gehabt, sich ihnen anzuschließen oder zu flüchten. Im Dschungel überschatte jetzt andauernder Hunger und Gewalt seinen Alltag. Er ist erst seit zwei Monaten hier, andere erzählen von einem Aufenthalt von einem Jahr oder länger - die Nerven liegen blank. "Wir leben wie Tiere, sind aber Menschen genauso wie ihr", sagt er. Wenn es gerade einmal keinen Streit mit Menschenhändlern oder anderen Illegalen gibt, schießt die französische Polizei laut Mahmadar auch gerne Tränengas ins Gebüsch. Schließlich steigt der Unmut in der Bevölkerung; die Kriminalität nehme zu, heißt es vielerorts in Calais.
Den Ausweg sucht Mahmadar wie viele seiner Kollegen fast jede Nacht - dann gehen sie auf den Lkw-Parkplatz beim Hafen und versuchen ihr Glück. Dabei ist es nicht ungefährlich, einen Lastwagen zu entern. Davon zeugt auch der vor Schmutz starrende Verband an seiner rechten Hand. Die hat er sich bei einem Sturz verletzt, als er versuchte, auf einen anfahrenden Laster zu springen. Doch dass sie nach Großbritannien wollen, darin sind sich fast alle einig. Erst rund 120 Menschen haben den Antrag auf ein Verfahren für den Abschiebungsschutz in Frankreich gestellt, nachdem die Prozeduren vor gut drei Monaten vereinfacht wurden.
Die Anreise dauerte ein beschwerliches Jahr
10.000 Euro hätten seine Eltern für seine Reise bezahlt, erzählt Amin, ebenfalls 16 Jahre alt. "Geh nach Großbritannien und rette dein Leben", habe ihm sein Vater gesagt. Alle Besitztümer der Familie seien verkauft und noch ein Kredit aufgenommen worden, um die Reise zu bezahlen. In London wolle er in die Schule gehen und nachher einen Job haben, hofft er.
Schon bis Calais sind die Immigranten rund ein Jahr unterwegs gewesen. Mussten beschwerlich über die Berge nach Pakistan wandern; Freunde und Schicksalsgenossen auf dem Weg zurücklassen, die von Unterernährung und Krankheit gestoppt wurden oder sogar gestorben sind. Über den Iran, die Türkei, Griechenland und Italien haben sie es schließlich an die französische Nordküste geschafft. Von hier aus können sie ihr Ziel bei gutem Wetter am Horizont erkennen. Nur noch vergleichsweise lächerliche 32 Kilometer Ärmelkanal trennen sie von der vermeintlich goldenen britischen Insel.
Franzosen und Briten wollen härter vorgehen
Doch die Regierung in London will dem Ansturm jetzt endlich einen Riegel vorschieben. Erinnerungen an das berüchtigte Rot-Kreuz-Flüchtlingslager Sangatte an der französischen Nordküste sind noch präsent, das Nicolas Sarkozy vor rund sieben Jahren in seiner damaligen Funktion als Innenminister schließen ließ. Bis zu 2500 Insassen waren damals gleichzeitig beherbergt worden.
Allein 14.000 illegale Einwanderer haben die französischen Behörden im ersten Halbjahr 2009 beim Versuch der Ärmelkanalüberquerung festgenommen - 75 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch 235 mutmaßliche Menschenschmuggler wurden verhaftet. Zwar erhalten die meisten der festgenommenen Heimatlosen einen Abschiebebescheid, den einige der Männer am Parkplatz sogar dabeihaben. Damit würden sie aber nach 24 Stunden fast immer wieder auf freien Fuß gesetzt, wie sie übereinstimmend erzählen. Abschiebungen habe es erst rund 145 gegeben, heißt es - was sich nach einer Vereinbarung zwischen Frankreich und Großbritannien jetzt ändern soll. Gemeinsame Rücktransporte sollen intensiviert, die Grenzen noch dichter werden. 60 zusätzliche Polizisten werden in die Hafenstadt versetzt, die Briten zahlen für die technische Aufrüstung zur Durchleuchtung der Lkw. Bis Jahresende wird die Räumung des Dschungels angestrebt.
Ansturm auf die Lkwbis Jahresende
Dann müssten wohl die meisten der Afghanen zumindest retour nach Griechenland, wo sie die EU-Grenze überschritten haben und per Fingerabdruck registriert wurden. Doch genau das wollen sie vermeiden, der Ansturm auf den Frachthafen wird ungebrochen bleiben, solange es noch möglich ist. Heute Nacht wolle er es wieder versuchen, sagt der 20-jährige Khalid aus Kabul. Gerade war er mit ein paar Kollegen im Meer baden - eine der wenigen Möglichkeiten, sich zu waschen. Einer der Jungen hat eine Shampooflasche dabei, das Salzwasser sei aber nicht so optimal, meint er.
Khalid spricht perfektes Englisch. Er war daheim Übersetzer für eine Baufirma. Doch zuletzt habe er es nicht mehr ausgehalten, dass täglich eine Bombe an einer Straßenecke explodiert. Für Großbritannien spreche die Sprache und der Frieden. Hier in Frankreich halte ihn nichts. Nur wenige Meter daneben ahnen die Menschen offenbar nichts von seinem Schicksal. Französische Familien liegen am Strand und genießen die Abendsonne. Diese bedeutet für Khalid, Amin und Mahmadar den Anbruch einer neuen Nacht und eine neue Chance, diesmal einen Lkw nach Großbritannien zu ergattern.