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Cambridge im Zeichen des Brexit

Von Eva Stanzl

Wissen

Wie sich eine englische Top-Universität für die neuen Zeiten wappnet.


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Florin Udrea hat das Motto seiner Alma mater verinnerlicht. "Einen gesellschaftlichen Beitrag durch das Streben nach Bildung und Forschung auf höchstem internationalen Exzellenzniveau zu leisten" lautet die Mission der britischen Universität Cambridge, die als beste Hochschule Europas gilt. Der Professor für Halbleitertechnologie des Maxwell Centre für Elektrotechnik hat sie in 300 Publikationen über smarte Technologien und Mikrosensoren umgesetzt. Er hat fünf Spin-off-Unternehmen gegründet und zwei davon bereits wieder verkauft, hält 70 Patente und ist Träger der Silbermedaille der Königlichen Britischen Akademie für "hervorragende Beiträge zu den britischen Ingenieurswissenschaften". Das einzige Problem: Florin Udrea ist rumänischer Staatsbürger. Seit dem Brexit-Votum fasst er ins Auge, sich einen anderen Job zu suchen.

"Meine Kinder wachsen hier auf, wir leben seit Jahren in England und früher habe ich mich hier ganz einfach zu Hause gefühlt. Das hat sich geändert. Das Problem ist, dass der Brexit Fragen der Identität berührt", erklärte Udrea am Rande einer Studienreise des heimischen Forschungsnetzwerks Austrian Cooperative Research (ACR), auf deren Einladung die "Wiener Zeitung" die Universität Cambridge diese Woche besuchte.

Auch seiner Forschungsgruppe sei die Leichtigkeit abhandengekommen, sagt Udrea. Die Region Cambridge votierte im Herbst 2016 für einen Verbleib in der EU. Es sollte anders kommen. Insbesondere seit der Rücktrittsankündigung von Premierministerin Theresa May regiert das Chaos - auch in der Forschung. Seit das Parlament im März ihr Austrittsabkommen mit Brüssel abgelehnt hat, weiß niemand mehr, welche Zukunft der für Oktober geplante EU-Austritt bringen wird. "Zahlreiche Forscher wollen nach Europa zurück, weil sie nicht wissen, mit welchen Förderungen sie künftig ihre wissenschaftliche Arbeit finanzieren können", sagt Udrea.

EU-Förderungen fallen weg

Im laufenden Horizon-2020-Programm der EU für Forschungsförderung nimmt Großbritannien an mehr als einem Drittel aller bisher genehmigten Projekte teil. Mit 267 Millionen Euro (2018) holte die Universität Cambridge die meisten europäischen Förderungen unter den britischen Hochschulen. Fast ein Fünftel der 19.100 Studierenden stammt aus anderen EU-Staaten. Bei einem ungeregelten Austritt wird das Programm Erasmus Plus für Auslandsaufenthalte junge Menschen nicht mehr an Universitäten in das Vereinigte Königreich führen. "Die meisten Top-Studenten streben an, nach dem Stipendium hier zu bleiben. Wenn sie keine Chance dazu haben, werden sie nicht kommen", erklärt der aus Bukarest stammende Professor.

Ein vielfältiges Netzwerk hilft

107 Nobelpreise für so bahnbrechende Entdeckungen wie die Doppelhelix der DNA gingen bisher an Wissenschafter der Universität. Erfindungen wie das Positiv-negativ-Verfahren in der Fotografie, der flexible Bildschirm oder die Webcam stammen aus ihren Labors. 4700 Firmen mit 60.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von rund 15 Milliarden Euro wurden entweder aus der Universität gegründet oder haben Niederlassungen im Science Cluster vor den Toren der 150.000 Einwohner-Stadt. Konzerne wie ARM, marktführender Designer von Mikroprozessoren, haben ihren Hauptsitz hier im dritterfolgreichsten Innovationssystem Europas, das schwerpunktmäßig auf Dienstleistungen, Technologieproduktion, Lebenswissenschaften, Gesundheit, Informations- und Kommunikationstechnologien setzt.

Ihren Erfolg hat die Universität zwei Autostunden nördlich von London einer Öffnung der Grundlagenforschung in Richtung Industrie und umgekehrt zu verdanken. "Genialität und Kreativität haben in unserer (1206 gegründeten, Anm.) Hochschule gewissermaßen Tradition", sagt Shirley Jamieson, Chefin der Abteilung für Internationale Beziehungen von Cambridge Enterprise, mit einem Schmunzeln. Die Uni-Einrichtung zur Kommerzialisierung von Forschungsergebnissen sorgt mit Beratungsleistungen dafür, dass Wissen seinen Weg in den Markt findet. Sie ist ein Glied in einem vielfältig-komplexen Netzwerk von Institutionen, die jeden Schritt von der Idee zum Produkt begleiten.

Von der Forschung im Labor über Prototypen für Präsentationen bis hin zu industrieller Auftragsforschung, Firmengründung, Werbung und Marketing deckt Cambridge gemäß seinem Leitsatz, Exzellenz mit Sorgsamkeit zu kombinieren, alles ab. "Grundlagenforschung untermauert Ideen. Kombiniert mit einem ständigen Austausch zwischen Akademikern, Firmen, Verwaltung und NGOs ergibt das ein Erfolgsrezept", fasst Jamieson zusammen. Offenheit und strategische Weitsicht in der Forschung werden im Vereinigten Königreich großgeschrieben. Schon in den 1950er Jahren erkannte die Regierung den Stellenwert von geistigem Eigentum. Ab Mitte der 1960er Jahren knüpften die Agenturen des Research Council ihre öffentlichen Förderungen an Innovationsmodelle.

Wenn Konzerne übersiedeln

Top-Innovationsstandorte entwickelten sich in Cambridge, Oxford, Edinburgh und um das University College und das Imperial College in London. Aber auch kleinere Unis, wie Bristol oder Warwick, tragen zur Rolle Großbritanniens als führender Innovationsstandort bei. Obwohl das Land nur 1,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Forschung ausgibt, reiht es im European Innovation Scoreboard auf Platz zwei. Österreich, das bei 3,19 Prozent angelangt ist, verweilt hingegen im Mittelfeld. Experten führen dies auf strukturelle Probleme bei der Überführung von Forschung in den Markt zurück.

"In Österreich hat der offene Austausch von Wissenschaft und Wirtschaft keine Tradition", betont ACR-Aufsichtsratspräsident Martin Leitl bei einem Streifzug durch den neuen Campus West für Technik und Naturwissenschaften in Cambridge, während die Gruppe ein Plakat betrachtet, das Vertreter der Industrie dazu ermutigt, die Forschungsinfrastruktur der Uni zu nutzen. Ob Weltkonzerne in Großbritannien bleiben, wird jedoch von der Art des Austrittabkommens abhängen. Der größte britische Autohersteller Jaguar Land Rover droht im Fall eines harten Brexit mit einem Abschied von der Insel. Ob Software-Konzerne wie Google ihre Europa-Zentralen hier lassen, muss sich weisen.

Große Universitäten arbeiten indes an Brexit-Strategien. Nach OX/BER, einer Kooperation zwischen der Universität Oxford und Hochschulen in Berlin, folgt CAM-LMU: Cambridge und die Ludwig-Maximilians Universität München haben 42 Projekte aus allen Fakultäten ausgewählt, in denen sie zusammenarbeiten wollen. Vice Chancellor Stephen Toope wird nicht müde, den Stellenwert internationaler Beziehungen zu unterstreichen: "Die Universität Cambridge ist und bliebt auch in unsicheren Zeiten offen", betont er in einem Statement. "Wir prüfen intensiv die Konsequenzen eines Brexit", betont auch Shirley Jamieson. "Wir müssen daran arbeiten, unsere Verbindungen mit Europa aufrechtzuerhalten."

"Den Brexit ignorieren"

Den Rechenstift hat das Imperial College in London angesetzt. Zusammen mit der Technischen Universität München hat es Pläne für ein Post-Brexit-Arrangement gemacht. Forschende sollen an beiden Institutionen beschäftigt werden und sich dadurch den Zugang zu EU-Forschungsförderungen erhalten. Die Hochschulen verleihen ihren Akademikern eine doppelte Staatsbürgerschaft für Kooperationen in Computerwissenschaften, Medizin, Biotechnologie, Physik und Weltraumforschung. Udrea hat indes eine eigene Lösung: "Die einzige Strategie ist im Moment, den Brexit zu ignorieren."