Britischer Premier will eingeschränkte Sozialleistungen für EU-Einwanderer - sonst droht Austritt.
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London. Der britische Premier ist ohnehin nicht gut auf die EU zu sprechen - spätestens seit ihm Brüssel im Oktober Nachzahlungsforderungen von 2,1 Milliarden Euro auf den Schreibtisch geknallt hatte. David Cameron soll damals, so heißt es, einen weithin hörbaren Wutanfall bekommen haben. Am Freitag sah der Tory die Gelegenheit zur Revanche gekommen. In einer Rede in Rocester schloss er einen Austritt Großbritanniens aus der EU nicht mehr aus, sollten einige zentrale Forderungen "auf taube Ohren stoßen". Es sei hoch an der Zeit, hatte Cameron bereits schon zuvor gesagt, die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU "ein für alle Mal zu klären".
Was Cameron will, ist für die EU nicht leicht zu verdauen: Konkret sollen EU-Bürger, die nach Großbritannien ziehen, erst nach vier Jahren Wohngeld, Kindergeld und andere wohlfahrtsstaatliche Leistungen fordern dürfen. Zudem soll der Nachzug von Familienangehörigen stark reglementiert werden. Wer nach sechs Monaten keinen Job hat, der wird in sein EU-Ursprungsland zurückgeschickt. Das ist starker Tobak für überzeugte Europäer, würde doch damit ein Grundpfeiler des europäischen Gedankens - der der Personenfreizügigkeit - eingeschränkt.
Die Neuregelung soll nach Camerons Vorstellung künftig in möglichst allen EU-Ländern gelten, notfalls ginge aber auch eine Ausnahmebestimmung nur für Großbritannien. Sollte sich die EU querlegen, dann sei ein Austritt Großbritanniens nicht auszuschließen. Der Premier hat den Briten vor allem auf Druck der Euroskeptiker in den eigenen Reihen versprochen, die Beziehungen Großbritanniens zur EU neu zu verhandeln. Dann soll 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU abgehalten werden.
Die Austritts-Befürworter werden in der Tat immer zahlreicher - und immer rabiater. Im Sommer haben 100 konservative MPs gedroht, man werde in jedem Fall für einen Austritt Großbritanniens stimmen, egal, ob Cameron den EU-Vertrag neu verhandeln kann oder nicht.
"Brexit" ist eineplausible Option
Der Widerstand anderer EU-Länder und der Kommission wird heftig ausfallen - allen voran der Deutschlands. Kanzlerin Angela Merkel hat schon vor einigen Wochen mit dem Statement aufhorchen lassen, dass man einen EU-Austritt der Briten möglicherweise nicht werde verhindern können. Auch namhafte britische Politologen halten den "Brexit", also den Austritt Großbritanniens aus der EU, für plausibel. Wenn das Referendum "schlecht getimed" würde, etwa die Regierung unpopulär wäre oder es der Eurozone schlecht gehe, sei ein britisches Ja zu einem Austritt aus der EU durchaus vorstellbar, so der englische Politologe Tim Oliver. Es könnte aber auch sein, dass sich die Briten dann doch lieber nicht einer zu großen Ungewissheit aussetzen wollen und im Endeffekt lieber gegen den Austritt stimmen.
Stellt sich die Frage, ob die britische "Sozialschmarotzer-Debatte" durch Fakten gedeckt wird. Nimmt man eine deutsche Vergleichsstudie des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung zur Hand - sie wurde erst am Donnerstag veröffentlicht -, dann stehen die Behauptungen Londons auf wackeligen Beinen. In Deutschland hat die Zuwanderung den Sozialkassen jedenfalls deutlich mehr genutzt als geschadet. Jeder Ausländer zahlt hier pro Jahr durchschnittlich 3300 Euro mehr Steuern und Sozialabgaben, als er an staatlichen Leistungen erhält.
Cameron steht das Wasserbis zum Hals
Doch Fakten sind zweitrangig, wenn es ums politische Überleben geht. Cameron steht innenpolitisch massiv unter Druck, denn im Mai 2015 wird das Unterhaus gewählt, und die Anti-EU- und Anti-Ausländer-Partei Ukip bekommt in den Umfragen immer stärkeren Zuwachs. Nach und nach fallen Labour- wie Tory-Bastionen. Bei den Europawahlen im vergangenen Mai ist die Partei die stärkste Kraft geworden, der Einzug ins britische Unterhaus ist bereits gelungen. Sollte Ukip so stark wie derzeit bleiben, könnte sie bei den Parlamentswahlen im Mai auf 128 Sitze kommen.
Die EU-Kommission reagiert auf den jüngsten Vorstoß Camerons zurückhaltend. Die Ideen müssten "ohne Drama" überprüft werden, heißt es hier, ein Sprecher verwies auf ein jüngstes Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Darin hatten die EU-Richter klargestellt, dass Bürger aus anderen EU-Staaten von bestimmten Sozialleistungen ausgeschlossen werden können. Im konkreten Fall ging es um eine Rumänin, die in Deutschland auf Hartz IV geklagt hatte. Bleibt anzuwarten, inwieweit die anderen EU-Länder bereit sind, den britischen Forderungen nachzugeben.
Streit ist jedenfalls vorprogrammiert.