Bei der kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte gilt es Maß zu halten.
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Der durch einen Polizisten gewaltsam herbeigeführte Tod von George Floyd in Minneapolis hat weltweit Empörung, antirassistische Kundgebungen und heftige Reaktionen in den Sozialen Medien ausgelöst. Dabei trat eine als Cancel-Kultur bezeichnete Bewegung in Erscheinung, deren Ziel der Boykott einer Person, Personengruppe oder Institution in den Sozialen Medien ist sowie deren Auslöschung in öffentlichen Darstellungen und Erscheinungsformen, wie Denkmälern, Orts- und Straßenbezeichnungen, Büchern etc. So wurden Denkmäler von Persönlichkeiten vom Sockel gestoßen oder beschädigt, die mit Sklaverei assoziiert werden, wie König Leopold II. von Belgien oder der Sklavenhändler und gleichzeitig Wohltäter von Bristol, Edward Colston.
Solche emotional begründbare, im Grund barbarische Vorgehensweisen sind nichts Neues. Im alten Rom gab es die "damnatio memoriae", die Löschung des Andenkens an unliebsame Persönlichkeiten. Immer wieder kam es zu Bücherverbrennungen, etwa durch die Inquisition oder das nationalsozialistische Regime. Dazu einige persönliche Anmerkungen zu dieser komplexen Problematik:
Denkmäler und Straßennamen sind Zeugen der eigenen Geschichte. Ihre Entfernung oder gar Zerstörung sollte zugunsten gelinderer Maßnahmen unter Einbindung kritischer Stimmen (erklärende Tafeln, Darstellung des gesamten Lebenswerkes, neue Denkmäler für Opferpersönlichkeiten) vermieden werden.
Eine große Verantwortung für einen rationalen Umgang mit der Cancel-Problematik tragen die Kommunikationspolitik der Regierungen und das Ausbildungssystem. Ja, Athen war die Wiege der Demokratie, aber die Hälfte der Bevölkerung waren Sklaven und nur ein kleiner Teil Vollbürger. Ja, erst die Aufklärung im 18. Jahrhundert forcierte die Idee der Gleichheit der Menschen im Bürgerstaat (beispielhafter Vertreter der Marquis de Condorcet). Kein römischer Kaiser verdiente eine Büste, gemessen an modernen Menschenrechtskonzepten.
Cancel-Gesinnung führt zu gesellschaftlichen Spaltungen und sollte daher vermieden werden. Besonders problematisch sind ständige Schuldzuweisungen an heute lebende "Erben" ehemaliger, manchmal Jahrhunderte entfernter Profiteure der damaligen sozialen und politischen Umstände. Das weckt Aggressionsgefühle bei der Mehrheit der in eine historische Täterrolle gedrängten Bevölkerung.
Wir sollten auch mit dem sensiblen Begriff "rassistisch" vorsichtiger umgehen und uns weniger in Rassismusvorwürfen ergehen, als uns mit den sozialen Ursachen der Ablehnung bestimmter Menschengruppen beschäftigen und deren strukturelle Benachteiligungen in der Gesellschaft zu beseitigen.
Die Cancel-Kultur ist eine zutiefst barbarische und undemokratische, weil sie die Macht der Sozialen Medien und der Demonstrationen dafür nutzt, Gesinnungsgegner in ihrem Erscheinungsbild und der Wirkung ihrer Diskussionsbeiträge zu schwächen, ja zu eliminieren, statt Dialog und Aushandlungsprozesse zu befördern. Die Cancel-Kultur ist auch eine rückwärts gewandte Bewegung, die wenig dazu beiträgt, sich den Herausforderungen der Zukunft konstruktiv zu stellen.