Carl Aigner, Direktor des Niederösterreichischen Landesmuseums und Präsident des österreichischen Zentrums des "International Council of Museums", erklärt, welche Aufgaben ein Museum in der heutigen Zeit zu erfüllen hat.
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Wiener Zeitung: Herr Aigner, im vergangenen Monat fand in Wien die Generalkonferenz des ICOM (International Council of Museums) statt. Sie sind der Präsident des österreichischen Zentrums von ICOM. Welche Eindrücke haben Sie von der Konferenz mitgenommen? Carl Aigner:Dass sich die 1631 Kolleginnen und Kollegen aus 117 Nationen unglaublich intensiv und vital mit brennenden Museumsfragen, bzw. der Museumsarbeit auseinandergesetzt haben. Weiters dass die österreichische Museumslandschaft international ein bemerkenswertes Prestige besitzt: Österreich ist wirklich eine Kultur- und Museumsnation!
Worum ging es denn bei diesem Kongress?
Das Generalthema hieß "Museen und universelles Erbe", und es hat sich an vielen Beispielen gezeigt, dass die Museen überall auf der Welt mitten in der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Realität ihrer Gesellschaft stehen.
Wie gut sind die Museen auf ihre gesellschaftliche Bedeutung vorbereitet?
In vielem erstaunlich gut. Manchmal wird dies nur viel zu wenig in der Öffentlichkeit sichtbar gemacht. Deshalb versuchen wir ja zum Beispiel in der "Langen Nacht der Museen" unsere Museumsarbeit stärker ins Blickfeld zu rücken. Das ist mir sehr wichtig, weil Museen mehr sind als Ausstellungshäuser. Meine Devise im Niederösterreichischen Landesmuseum lautet: Jeder Besucher muss das Museum mit dem Bewusstsein verlassen, dass er eben in einem Museum gewesen ist, nicht nur in einer Ausstellung. Museumsarbeit braucht einen langen Atem, weil sie nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für zukünftige Generationen geleistet wird. Es sollte nicht sein, dass Museen irgendeiner Mode nachrennen, und fünf Jahre später wieder einer anderen. Wir haben eine besondere Verantwortung für Nachhaltigkeit; die "Zeitmaschine" Museum denkt in Jahrhunderten!
Allerdings gibt es in Österreich in diesem Punkt einiges zu kritisieren: Manche Direktoren haben ihre Sammlungstätigkeit nicht so sehr im Auge, sondern befassen sich lieber mit publikumswirksamen Ausstellungen. Wie stehen Sie zu dieser Entwicklung?
Es ist für die Museen schwierig, "langsame" Organismen zu bleiben. Museen sind Orte der Entschleunigung, während die Zeit, in der wir leben, immer dynamischer und schneller wird. Doch schadet es langfristig, wenn Museen bloß kulturelle "Durchlauferhitzer" sind. Hinzu kommt, dass zurzeit zu sehr nach der unmittelbaren Rentabilität gefragt wird und Fragen des Managements, der Organisation und rechtlichen Form unnötig oft in der Öffentlichkeit behandelt werden. Selbstverständlich haben wir die Aufgabe, Museen für neue Anforderungen ihrer jeweiligen Gegenwart fit zu machen und fit zu halten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gibt es in der aktuellen Diskussion aber kaum gesellschaftspolitische Museumsvisionen. Das vermisse ich. Trotzdem ist in Österreich ausgezeichnete und aufregende Museumsarbeit geleistet worden, was in den aktuellen Museumsdiskussionen viel zu wenig sichtbar gemacht wird.
Es ist ja eine spezifisch österreichische Tradition, dass die Musik und das Theater immer wichtiger gewesen sind als die bildende Kunst. In den letzten zehn Jahren konnte diese Tradition aufgebrochen werden: Die Medien widmen heute den Ausstellungen ebenso viel Raum wie der Oper und dem Schauspiel, und es gehört heute genauso zum gesellschaftlichen "Must", bei einer Ausstellungsvernissage dabei zu sein wie bei einer Opernpremiere.
Die Balance zwischen der primären Museumsarbeit und publikumswirksamen Ausstellung zu finden, ist nicht leicht, die beiden sollten aber niemals gegeneinander ausgespielt werden. Ohne jahrzehnte-, ja jahrhundertelange Museumsarbeit wäre es nicht möglich, so hochkarätige und faszinierende Ausstellungen zu machen, wie wir sie in Österreich haben. Was aber würden all diese Museumsleistungen nützen, wenn sie nicht via Ausstellungen und Publikationen sichtbar werden? Deshalb gibt es bei der größten österreichischen Museumsvereinigung, bei ICOM-Österreich, auch keinen Unterschied zwischen sogenannten "großen" und "kleineren" Museen; es zählt nur die Qualität der Museumsarbeit und die kann in kleineren Museen genauso hervorragend und wichtig sein wie in den großen. Dies ist übrigens ein wichtiger Grund dafür, dass 2001 von ICOM-Österreich das Österreichische Museumsgütesiegel initiiert wurde.
Aber die Tendenz zur Theatralisierung, zur Visualisierung und zur Personalisierung, die im gesamten Kulturbetrieb zu beobachten ist, geht auch an den Museen nicht spurlos vorbei.
Ja, das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, und man sollte einzelne Museumsdirektoren nicht vorschnell dafür kritisieren. Aber vielleicht sollten sich manche doch mehr als (Bundes-)Museumsfamilie mit gemeinsamen Anliegen begreifen. Vor allem darf man aber nicht vergessen, welch komplexe Aufgabe und gesellschaftliche Stellung das Museum hat: Es soll eine Polyvalenz der Zeitlichkeit bewirken. Museen nehmen im Verhältnis zwischen Zeit und Gesellschaft eine ganz besondere Position ein, weil es in ihnen um authentische Objekte geht. Ich gehöre zu jenen, die sich vehement dagegen verwehren, dass in Museumsräumen Kopien gezeigt werden.
Verstehen Sie also das Museum als Bewahrer des Echten, im Gegensatz zu all den vielen Surrogaten, Kopien und Simulationen, die uns umgeben?
Ja - wobei ich lieber "authentisch" sage als "echt". Während Rembrandt seine Bilder gemalt hat, wurden zum Beispiel von anderen Künstlern schon Rembrandt-Kopien hergestellt. Sie sind echt in Bezug auf die Zeit, in der sie entstanden sind, aber nicht authentisch bezüglich Rembrandt. Das ist ein Unterschied.
Ihre Konzepte widersprechen aber zumindest dem, was in Wien passiert. Hier geht es vor allem um Ausstellungen mit Event-Charakter, Stars werden hervorgehoben. Rufen Sie im Gegensatz dazu zur Besinnung auf alte Museumswerte auf?
Das Sammeln, das Bewahren, das wissenschaftliche Arbeiten sind keine "alten Werte", sie gehören zur Gegenwart jedes Museums schlechthin. Wenn diese Aufgaben nicht erfüllt werden, hört das Museum auf, eines zu sein. Aber daneben ist das Moment der Präsentation, der Vermittlung genauso wichtig - Museen sind ja kein Selbstzweck. Jeder, der im Museum arbeitet, freut sich, wenn so viele Menschen wie möglich kommen, das ist doch heute keine Frage mehr! Überdies sind wir auch mit neuen ökonomischen Ansprüchen konfrontiert. Museumsarbeit muss finanzierbar sein. Dabei hat die öffentliche Hand meiner Meinung nach dafür zu sorgen, dass keine negativen Konkurrenzverhältnisse, kein negativer Wettbewerb untereinander entstehen. Eine mediale Museumsdebatte etwa über die Frage, wer wie viel Geld bekommt, nützt niemandem.
Die zuständige Bundesministerin Claudia Schmied hat angekündigt, dass sie in die Kompetenzverteilung der Museen gegebenenfalls eingreifen wird. Sehen Sie das positiv im Sinne einer vernünftigen Kontrolle, oder sind Einmischungen der Politik immer schlecht?
Der Eigentümer darf und muss seine Verantwortung wahrnehmen. Wenn ich die Ministerin richtig verstehe, geht es ihr auch nicht um Einmischungen, sondern um eine Bilanz und Evaluierung nach zehn Jahren Vollrechtsfähigkeit der Museen. Es ist im Grunde ganz einfach: Wenn sich die Kollegen der Bundesmuseen nicht selbst zusammensetzen, sich absprechen und ihre Arbeit evaluieren, dann muss es eben der Eigentümer tun. Das Budget ist knapp, und wir alle müssen versuchen, das Vorhandene so effizient wie möglich einzusetzen. Dass der Eigentümer dabei mitspricht, ist selbstverständlich. Bedenklich wäre es nur, wenn dann vor allem nach parteipolitischen oder persönlichen Kriterien entschieden oder das Einzelengagement korsettiert würde. Diesen Eindruck habe ich bei Frau Minister Schmied zurzeit nicht, vielmehr scheint es um sehr grundsätzliche Sondierungen zu gehen, wie die Situierung einer Expertengruppe zeigt.
Werden sich die Museumsdirektoren den Entscheidungen dieser Gruppe wirklich fügen - individualistisch, wie sie sind?
Wenn niemand bevorzugt wird, ist eine gewisse Objektivität gegeben. Sie zu schaffen, scheint mir sehr wichtig zu sein. Es geht doch darum, dass wir im enormen Wettbewerb mit der Freizeitindustrie eine gute Position haben. Das betrifft uns alle gleichermaßen. Die Institution Museum sollte daran mitarbeiten, dass die Gesellschaft sich gut weiter entwickelt. Sie kann zum Beispiel zur Beschäftigung mit dem Eigenen und dem Fremden anregen, und damit zur Sinngebung und zur Friedensstiftung in der Gesellschaft beitragen. Im kulturell-musealen Feld haben wir etwa kaum noch die Herausforderung der Drogenproblematik angenommen - hier gäbe es wichtige gesellschaftsnotwendige Aufgaben und brisante Herausforderungen, denn Museen sind immer auch emphatische Orte!
Darf den Museen jedes Mittel recht sein, um Öffentlichkeitswirkung zu erzielen?
Natürlich muss man versuchen, unter all den Konkurrenten eine "Ökonomie der Aufmerksamkeit" zu entwickeln. Aber ethische Grenzen dürfen dabei nicht verletzt werden. Es gibt bei ICOM seit Jahrzehnten einen "Code of Ethics", der den Museen Orientierung gibt. Der Direktor eines Museums für zeitgenössische Kunst sollte zum Beispiel nicht unbedingt eine Privatsammlung zeitgenössischer Kunst aufbauen, weil sich dadurch die Interessen allzu sehr vermischen könnten. Doch geht die Ethik des Museums weit über solche Einzelfragen hinaus. Seit seiner Gründung beschäftigt sich ICOM mit Fragen des Kunstraubs, des Denkmalschutzes, der Bewahrung des historischen Erbes - etwa auch in diktatorischen Regimes wie China, wo ICOM übrigens lange Zeit verboten gewesen ist.
Ein schwieriges ethisches Dilemma stellte sich zum Beispiel vor kurzem während der Waldbrände in Griechenland: War es wirklich richtig, erst die antiken Ruinen in Olympia zu retten, oder hätte man sich nicht zuerst um die Menschen und ihre Dürfer kümmern müssen?
Selbstverständlich muss der Mensch Vorrang haben, denn was nützen uns die wunderbaren Kulturschätze, wenn keine Menschen mehr da sind, die sie betrachten? Im konkreten Fall scheint es jedoch gar nicht notwendig zu sein, ein Entweder-Oder zu reklamieren, denn es gab ein massives gesellschaftliches Versagen im Hinblick auf jahrzehntelange Brände und Brandstiftung.
Nochmals zurück zu den Museen als Orten der Sinngebung. In Niederösterreich gibt es neuerdings das Nitschmuseum in Mistelbach und das Frohner Forum in Krems - großer Aufwand und wenige Besucher, wie man hört. Lohnen sich solche personalisierten Museen? Ja, weil sie thematisch in der Gesamtmuseumswelt Niederösterreichs vernetzt sind. Es muss auch ausdrücklich angemerkt werden, dass es sich um keine reinen Künstlermuseen handelt, sondern um viel komplexere Institutionen, bei denen jeweils ein Künstler und sein Name Promotor, also Visitkarte ist. Das Frohner Forum wird erst Ende September eröffnet, das Nitschmuseum, eine Initiative des Bürgermeisters Resch, liegt besuchermäßig im geplanten Rahmen.
Kommt Ihr einstiges Forschungsgebiet, die Fotografie, in Ihrer Museumsarbeit nicht zu kurz?
Nein. Wir haben laufend fotografische Projekte - das nächste im heurigen Herbst. Als ich vor 25 Jahren angefangen habe, mich kontinuierlich und wissenschaftlich mit Fotografie zu beschäftigen, galt sie vielen noch als trivial oder banal. Heute braucht man keine Pionierarbeit mehr leisten. Die Fotografie erlebt seit zehn Jahren eine unglaubliche Erfolgsgeschichte, künstlerisch und auch kunstmarktmäßig.
Für viele aktuelle Künstler ist die Fotografie sogar das Hauptmedium geworden. Ist sie also in der Gesellschaft wieder so stark verankert wie vor 1938?
Noch viel mehr, trotz neuer Medien. Allerdings geht die materielle Qualität zunehmend verloren, die Fotofirmen stellen etwa kaum mehr Barytpapier her, alle halben Jahre hört man, die Polaroidproduktion werde eingestellt. Das heißt, wir haben einen unglaublichen Verlust an Fotografiearten. Vor diesem Hintergrund wurde die Fotografie im künstlerischen Diskurs wiederentdeckt und aufs Neue ein mächtiger Stimulans für die Gegenwartskunst. Nächstes Jahr mache ich zu diesem bildtechnischen Verlust die Ausstellungstour "Fotografie - Natur" durch Niederösterreich: im Zentrum steht dabei die fotografische Materialität als künstlerische Bilddimension, das Bewusstsein und Wissen der jungen Leute des Digitalzeitalters über Fotografie soll wieder geweckt werden.
In der Nachkriegszeit waren es vor allem Künstlerinnen, die sich für Fotografie, neue Medien, Apparate und Raum interessierten. Wieso eigentlich?
Fotografie und Video waren neue Medien, die nicht von uns Männern besetzt waren. Aber vielleicht gibt es auch eine andere Sensibilität von Frauen gegenüber den neuen Medien an sich.
Sie sind eher ein Liebhaber der Theorie?
Nicht unbedingt, Theorie und Praxis sind kein Widerspruch! Das Denken von Claude Lévi-Strauss hat mich beim Studium besonders beeinflusst, aber auch die anderen französischen Strukturalisten. Zur Beschäftigung mit dem Museum hat mich aber vor allem Sigmund Freud inspiriert. Er ist für mich ein phantastischer Schriftsteller, der schon allein für die "Traumdeutung" den Literaturnobelpreis verdient hätte. Der Traum offenbart für Freud immer etwas, was im Menschen gespeichert ist und niemals verloren geht.
Freud hat mit seinen Erkenntnissen eine "archäologische" Bildtheorie formuliert, eine der wichtigsten Bildtheorien des 20. Jahrhunderts übrigens! Genau das ist auch die Grundidee eines Museums: Authentisches speichern. Wenn Freud sagte: "Der Traum ist die Via regia zum Unbewussten des Menschen", so ergänze ich: Das Museum ist die Via regia zum Verständnis und Selbstverständnis von Sozietäten und Gesellschaften, Kulturen und Individuen.
Kulturen haben sich durch Museen und durch das Sammeln verändert, und die Museen sind Ausdruck und zugleich Motor dieser Veränderung. Sie leisten eine strukturale Arbeit, die durchaus dem Traum vergleichbar ist: temporale Verdichtung und Verschiebung! Insofern hat der Museologe Recht, der unlängst anmerkte, dass eine Gesellschaft ohne Museen eine Gesellschaft ohne Zukunft ist.
Carl Aigner
Carl Aigner wurde 1954 in Oberösterreich geboren, studierte Geschichte, Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik in Salzburg und Paris. Seit 1989 unterrichtet er an verschiedenen österreichischen Universitäten, unter anderem an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. 1991 gründete er "EIKON", eine internationale Kunstzeitschrift für Photographie und neue Medien. Zwischen 1997 und 2003 war er als Direktor der Kunsthalle Krems tätig, von 2000 bis 2001 als Projektleiter der Abteilung Kulturwissenschaften an der Donauuniversität Krems.
Seit 2001 ist Carl Aigner Direktor des Niederösterreichischen Landesmuseums in St. Pölten. Seit 2005 ist er Präsident des österreichischen Zentrums von ICOM (International Council of Museums) und Präsidiumsmitglied von IMA, der Interessensgemeinschaft Österreichischer Museen und Ausstellungshäuser. Aigner lebt in Krems und Wien.
Publikationen (Auswahl):
Diskurse der Bilder. Photokünstlerische Reprisen kunsthistorischer Werke. Kunsthistorisches Museum, Wien 1993.
Tomorrow For Ever. Architektur / Zeit / Photographie. DuMont, Köln 1999, in der Reihe: "Die Kunst der Zeit" Band I (gemeinsam mit Hubertus von Amelunxen und Walter Smerling).
Zeit / Los. Zur Kunstgeschichte der Zeit. DuMont, Köln 1999, in der Reihe: "Die Kunst der Zeit"Band II (gemeinsam mit Götz Pochat).
Haltbar bis . . . Immer schneller. Design auf Zeit. DuMont, Köln 1999, in der Reihe: "Die Kunst der Zeit"Band III (gemeinsam mit Uli Marchsteiner).
Kunst und ihre Diskurse. Österreichische Kunst in den 80er und 90er Jahren. Passagen Verlag, Wien 1999 (gemeinsam mit Daniela Hölzl).